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Grenzen der Sprachwissenschaft

So reden die gründlichsten und besonnensten Forscher nicht. H. Paul sagt sich energisch vom alten Wortrealismus los, wenn er auch an die Wissenschaftlichkeit der Historie glaubt. Und neuerdings erst hat uns B. Delbrück (in den "Grundfragen der Sprachforschung") eine Schrift geschenkt, die mit einer Kritik von W. Wundts allzu dogmatischer Sprachpsychologie an mancher Stelle eine leise, skeptische Resignation zu verbinden scheint. Der Kenner der indogermanischen: "Sprachgeschichte" warnt vor dem Vergleichen mit entlegenerem Sprachmaterial und gibt zwar nicht den Begriff der Wurzeln, Wohl aber die Aufstellung von Wurzeln preis; auch räumt er ruhig die Macht des sprachhistorischen Zufalls ein. Er will ja auch den Begriff der indogermanischen Ursprache nicht anders verstanden wissen als den der Wurzeln. Noch wichtiger scheint es, dass Delbrück an einigen Stellen (S. 126 u. 174) lächelnd die methodischen Einteilungen für die Wissenschaft fallen läßt und nur für das praktische Bedürfnis beibehält. Für das praktische Bedürfnis der Disziplin doch wohl, die die Fülle ihrer Beobachtungen gern übersehen möchte. "Die Wissenschaft kennt keine Dogmatik" (S. 176). Wirklich nicht? B. Delbrück weiß besser als ich, dass da das Wort "Dogma" nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung ("Meinung") gebraucht ist, sondern mit dem Nebensinn, den. es von der Theologie her behalten hat. Aber dennoch: weiß die Geschichte, dass sie nur ein Wissen und keine Wissenschaft ist? Und ist irgend eine Wissenschaft frei von Theologie? Von Mythologie? Eine Wissenschaft, deren alleiniges Mittel die anthropomorphische Sprache ist? Ein so überlegener Philologe wie Delbrück, das hoffe ich, wird es nicht für eine Verkleinerung seines Arbeitsfeldes ansehen, wenn er seinen eigenen Zweifel sich entwickeln sieht zu der Überzeugung: auch Sprachgeschichte ist nur Geschichte, eine Geschichte der Ungesetzlichkeit.

Der Mann, der den feinsten Spürsinn für den "Schlangenbetrug der Sprache" besaß, der die Sprache eines Volkes gelegentlich seine Geschichte nannte und die Geschichte wieder ce monstre d'histoire, Hamann, hat einmal über einen Mann gespottet, der täglich eine Seite im Etymologico magno liest, um der beste Historicus zu sein. "Doch vielleicht," sagt er ein anderes Mal, in den "Somatischen Denkwürdigkeiten", "ist die ganze Historie mehr Mythologie ... ein Rätsel, das sich nicht auflösen läßt, wenn nicht mit einem anderen Kalbe als unserer Vernunft gepflügt wird." Was aber ist für Hamann, diese Vernunft? "Unsere Vernunft ist jenem blinden thebanischen Wahrsager ähnlich, dem seine Tochter den Flug der Vögel beschrieb; er prophezeite aus ihren Nachrichten."