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Zeitdauer der Sprachgeschichte - Zeit der Zahlengeschichte

Ich schließe also aus der Entwicklung und der weitgediehenen Differenzierung der menschlichen Sprache auf das hohe Alter der Sprache selbst; habe also danach das hohe Alter der Menschheit gar nicht erst zu beweisen. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, dass ein Eichbaum unter Umständen, das heißt naturgemäß, älter wird als im Durchschnitt die Sprache eines Menschenvolkes. Niemand zweifelt beim Anblick einer tausendjährigen Eiche, die mit ihrem Rauschen die uns unverständliche Sprache Karls des Großen begleitet hat, dass sie von der Frucht eines Baumes stamme, der vor ihr da war, und der wieder von einem anderen, und so ruhig um 1000 Eichbaumgenerationen zurück. Warum zögert man, einer Sprache so zahlreiche Ahnen zuzutrauen? Weil sie nicht so unverändert geblieben ist wie ein Eichbaum? Gerade die Veränderung ist ja sonst ein Zeichen der Zeitdauer.

Vergleichen wir einmal die Sprache, wie wir sie sprechen, nach dem Bau ihrer Kategorien mit der deutschen Sprache Karls des Großen und etwa noch mit dem Sanskrit des Rigweda. Was hat sich seitdem groß geändert? So gering ist der Unterschied im eigentlichen Bau der Redeteile (syntaktische Feinheiten abgerechnet), dass die Sprachgeschichte, wenn sie deutlich und kurz sein will, dieser Differenz gar nicht gedenkt und nur von Lautveränderungen als von Unterscheidungsmerkmalen spricht. Aber auch das älteste Sanskrit hat im wesentlichen schon unsere Deklinations- und Konjugationsformen, unsere Adjektiva und Pronomina, unsere Adverbien und Zahlwörter beisammen. Es ist also auf dem Gebiete der Sprache im Laufe von 4000 Jahren fast nichts Neues geschaffen worden, es wäre denn ein konventionellerer Gebrauch der Präpositionen, eine Verdeutlichung des Pronomens und die mechanische Weiterentwicklung des dekadischen Zahlensystems. Halten wir uns einmal an dieses letzte Detail, weil doch gerade von Ziffern die Rede ist. Die Null (Ziffra), ohne welche unser ganzes bequemes Rechnen nicht möglich wäre, wurde in Indien etwa im vierten Jahrhundert nach Christi Geburt erfunden; es dauerte 800 Jahre, bevor Sache und Wort in unseren Kulturländern durchgesetzt wurde. Weiter: die Sanskritpriester hatten das dekadische System so pedantisch ausgebildet, dass sie für jedes Mehrfache von zehn einen besonderen Namen hatten; es ging das durch Kombinationen und Stufenbezeichnungen bis ins Sinnlose und Phantastische. Selbst unsere modernen Astronomen würden von diesen Namen keinen Gebrauch machen können, da sie niemals eine Zahl von einer Sextillion Stellen auszusprechen brauchen. Aber die Inder standen mit dieser Liebhaberei allein. Homers größte Ziffer ist noch die Tausend. Das Wort für 10000 (myria) haben die Griechen erst später erfunden. Hunderttausend umschrieben sie, wie auch wir es tun. Ebenso halfen sich die Römer, trotzdem sie oft genug größere Ziffern aussprechen wollten. Für eine Million sagten sie decies centena milia, das heißt 10 x 100 x 1000. Es hat also nach Erfindung eines Wortes für 10 000 noch zwei Jahrtausende gebraucht, bevor das Wort "Million" (am Ausgang des 15. Jahrhunderts nach Christi) erfunden wurde. Und nun sollte ich doch denken, dass es viel leichter war und darum viel schneller geschehen konnte, auf Grund des vorhandenen dekadischen Systems dem notwendigen Begriffe "Million" seinen Namen zu geben, als in Urzeiten zuerst überhaupt die ungeheure Erfindung des Zählens zu machen, dann im Laufe von Aeonen1 bis drei zählen zu lernen, dann den Abschnitt bei der Zehn zu machen, dann diesen Abschnitt begrifflich zu fassen und das dekadische System zu erfinden. Mir wird es natürlich nicht einfallen, auf diese wenigen Tatsachen etwa eine Rechnung aufbauen zu wollen; das wäre kindisch. Wie aber alle Rechnung Vergleichung ist, so werde ich vergleichen dürfen. Wenn die Namengebung für ein Mehrfaches von Tausend, für die Million nämlich, trotz der Existenz so hoher Ziffernwerte, Jahrtausende gebraucht hat, so muß die viel schwierigere Namengebung für die ersten Zahlen unendlich länger gedauert haben. Will man Kulturunterschiede mit Jahreszahlen bezeichnen, und bedenkt man, dass wir schon beim ersten Auftreten der Geschichte die "Tausend" besaßen, so muß man die Kultur der Völker, die nur bis drei zählen können, nicht um Tausende, sondern um Hunderttausende von Jahren zurückdatieren und muß begreifen, dass es keine Kleinigkeit war, das Zählen auch, nur bis zu drei zu erfinden.

Und genau so, wie mit den Zahlworten, nur nicht so auffällig, steht es um die Erfindung der drei Personen der Fürwörter, der drei Zeiten des Verbums, der wichtigsten Kasus des Substantivs. Das alles ist so schwer zu erfinden und einzuüben, dass ein kleines Menschenkind, nachdem es zu sprechen angefangen hat, noch drei bis vier Jahre braucht, bevor es die Entwicklung der Menschheit halbwegs nachholt, bevor es Zeiten und Kasus und Personen und Zahlen ein bißchen ordentlich unterscheiden kann, — dasselbe Menschenkind, das die Entwicklung der Menschheit aus dem angenommenen Protoplasma bis zur Menschengestalt in den neun embryonalen Monaten einzuholen vermag. Mag auch das Gehirngedächtnis weniger gefällig sein als das Gedächtnis des älteren Organismus, mag darum das Nachholen der Sprachentwicklung langsamer vor sich gehen als die Entwicklung des Auges usw. — für die wirkliche Zeit des Ausbaus der menschlichen Sprache kommen wir dennoch zu anderen Zeiträumen, als die der Linguistik und der schüchternen Anthropologie sind.


  1. Das Wort "Aeonen" ist selbst wieder ein anderes Beispiel für den Wandel im Maße der Zeitvorstellungen. Es bedeutete im Griechischen ursprünglich die Lebenszeit. Erst über die Tollhausideen der Gnostiker hinweg gewann es die Bedeutung ungemessener Zeiträume. In diesem Sinne wird es bei uns erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gebraucht, anfangs unter dem Spotte der Zeitgenossen.