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Lebensdauer der Sprachen

Nun achte man einmal darauf, dass diese angenommenen Untersuchungen amerikanischer Forscher eigentlich — in unserer Sprache ausgedrückt — die Zeit seit Anfang des 16. Jahrhunderts umfassen würden. Also eine sehr genau umgrenzte Zeit. Ganz ebenso müßte die Zeit des angeblichen arischen Urvolkes und seiner Ursprache in Wirklichkeit eine genau umschriebene Zeit sein. Halten wir ein Moment fest. Auch seit Erfindung der Schrift, welche die Sprachen doch unbedingt konservativer gemacht haben muß, als sie früher waren, hat es noch keine unserer Kultursprachen auf eine Dauer gebracht, die länger gewesen wäre als tausend Jahre. Man mache sich das einmal völlig klar. Es ist die Lebensdauer eines Individuums, die Lebensdauer z. B. einer Eiche, größer als die Zeit einer von Millionen in folgenden Geschlechtern gesprochenen Sprache. Die künstliche Wiederherstellung des Griechischen ist keine Gegeninstanz. Auch nicht die Fortdauer der alten chinesischen Schrift. Denn Schrift ist nicht Sprache. Wenn man, wie gewöhnlich geschieht, Mundarten von Sprachen daran unterscheidet, dass die Menschen in verschiedenen Mundarten sich noch irgendwie miteinander verständigen können, die Menschen von verschiedenen Sprachen nicht, so ist das gegenwärtige Hochdeutsch nicht eine andere Mundart, sondern eine andere Sprache als das Althochdeutsche. Ebenso ist das heutige Französisch eine andere Sprache als die des Rolandslieds; ebenso ist das heutige Italienisch (trotz seiner verhältnismäßigen Starrheit) eine andere Sprache als die des Königs Enzio.

Nun werden die Sprachforscher, die sich in engen Kreisen zu bewegen lieben, eine Dauer von tausend Jahren für einen ungeheuren Zeitraum halten und sich auch dann noch zufrieden geben, wenn mit Rücksicht auf das Altertum dieser Zustände die Dauer jener Ursprache nur auf wenige hundert Jahre angesetzt wird. Wann aber soll jene Sprache, wenn sie existiert hat, gesprochen worden sein? Die ethnographischen Sprachforscher weichen chronologischen Fragen grundsätzlich aus. Sie reden am liebsten von der Zeit "vor der Trennung", sie bestimmen also die Zeit nach einem Ereignis, welches nicht bewiesen ist und welches eigentlich erst durch Forschungen über seine Zeit bewiesen werden könnte. Je nachdem man nun eine gleichzeitige Wanderung und Trennung mit der Legende vom babylonischen Turmbau annimmt oder ein staffelförmiges Fortschreiten vieler einzelner Trennungen, müßte man auch zu ganz verschiedenen Chronologien kommen.

Aber angenommen auch, es wäre die sogenannte Urheimat der Indoeuropäer und ihre Ursprache für irgend einen Ort und irgend eine Zeit erwiesen, wir wüßten, dass in einem bestimmten Lande vor fünftausend oder vor sechstausend Jahren ein Volk gelebt hätte, dessen Sprache — uns wohl bekannt — zum Sanskrit, zum Griechischen, zum Deutschen, zum Slawischen usw. nachweisbar in dem Verhältnis stünde wie das Lateinische zu den modernen romanischen Sprachen: was wäre damit gewonnen? Ein paar Dutzend Professuren könnten für diese Disziplin errichtet werden, die armen Gymnasiasten hätten ein paar Bogen mehr auswendig zu lernen, aber das Forschen nach der Herkunft könnte darum nicht aufhören, die Professoren wollten denn einander einreden, jenes Volk vor fünf- oder sechstausend Jahren sei damals an Ort und Stelle mitsamt seiner Sprache geschaffen worden. Es wäre die sogenannte Weltgeschichte um ein Viertel ihrer minimalen Ausdehnung zurückgerückt; für die Geschichte der Völker und der Sprachen, für deren ernsthafte Fragen wenigstens, wäre nichts gewonnen. Die Neugier wäre befriedigt, sonst nichts; wie wenn einem Goetheforscher gelingt, nachdem der Geburtsort von Goethes Großvater entdeckt ist, nun auch über den Urgroßvater etwas in Erfahrung zu bringen. Es gibt einige Zeilen mehr für eine Biographie; der genießende Leser des Faust aber weiß mit Goethes Urgroßvater für sein Verständnis nichts anzufangen.

Will die ethnographische Sprachforschung einen weiteren Gesichtspunkt gewinnen, will sie sich an größere Zahlenverhältnisse gewöhnen, so muß sie sich entschließen, ehrlicher und resignierter als bisher bei der Geologie, ja auch bei der Geschichte von deren Irrtümern in die Schule zu gehen, sodann bei der Paläontologie. Wie ungeschickt das bisher geschehen ist, möchte ich an einem kleinen Beispiel zeigen. Schrader (Sprachvergleichung und Urgeschichte S. 203) bemerkt, es gehe aus der Vergleichung eines lateinischen und eines oskischen Wortes hervor, dass die sogenannten Uritaliker (was man sich wohl dabei denken mag?) das Silber schon gekannt hätten, dass aber in den Pfahlbauten der Poebene bisher dieses Metall noch nicht nachgewiesen werden konnte. Es frage sich nun, ob die Pfahlbauten vielleicht einem anderen Volke angehört hätten als seinen Uritalikern. Er will nichts entscheiden, weil zwischen der Zeit der Pfahlbauern und der Zeit des gemeinsamen uritalischen Wortes für Silber "Jahrhunderte" liegen könnten. Er rührt gewiß nur ungern an diesen wunden Punkt. Denn wo bleibt die Reinheit und Schönheit der indoeuropäischen Sprachen, wenn kurz vor der Einwanderung oder der Schöpfung von Indoeuropäern irgend welche nichtarische Barbaren die Küchenabfälle oder Kjökkenmöddings aufgeschichtet und die Pfähle in die Seen eingerammt haben?