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Tochtersprachen

Noch einmal: jeder bessere Sprachforscher wird wie beleidigt die Zumutung ablehnen, dass er die Metapher von einer Verwandtschaft der Sprachen wörtlich und natürlich genommen habe. Aber diese Metapher hat sich dennoch in den Köpfen festgesetzt und wirkt auf die Begriffsentwicklung, wie auch sonst überall Personifikationen das Denken beeinflußt haben. Eine Folge der Metapher von der Sprachverwandtschaft scheint es mir auch zu sein, dass trotz der besseren Einsicht immer wieder Sprachverwandtschaft und Völkerverwandtschaft unklar durcheinander gemengt werden, wo man doch richtiger von Sprachmischung auf Völkermischung, das heißt auf kriegerischen oder friedlichen Völkerverkehr schließen sollte. Es will die Sprachwissenschaft eben auf ihre Dichterrechte nicht verzichten, sie will sich die Flügel ihrer Phantasie nicht beschneiden lassen. Es wäre ja vorbei mit unseren wohlgeordneten Kenntnissen von den Kulturzuständen des legendaren indogermanischen Urvolkes, wenn es nicht Muttersprachen und Tochtersprachen, wenn es nicht eine Art leiblicher Verwandtschaft zwischen den Sprachen gäbe. Max Müller wird noch ganz pathetisch bei der Verteidigung solcher Ergebnisse der Sprachwissenschaft und nimmt den Mund dabei recht voll. Er sagt (Vorlesungen I, S. 198): "Wir können noch weiter gehen. Gesetzt, wir besäßen keine Überreste des Lateinischen, wir wüßten nicht einmal, dass Rom und seine Sprache je existiert habe, so könnten wir doch aus den uns vorliegenden sechs romanischen Dialekten beweisen, dass es eine Zeit gegeben haben müsse, zu der diese Dialekte die Sprache einer kleinen Ansiedlung bildeten, ja durch eine sorgfältige Sammlung aller diesen Sprachen gemeinsamen Wörter könnten wir die Ursprache bis zu einem gewissen Punkte aus ihren Trümmern wieder zusammenbauen und von dem Kulturzustande, wie er sich in diesen gemeinsamen Wörtern abspiegelt, eine Skizze entwerfen." Ich habe kein so festes Vertrauen zu der Sprachwissenschaft. Sie kann immer nur sammeln, was anders woher historisch belegt ist, über die vorhistorische Zeit kann sie nur phantasieren. Und wenn die Voraussetzung Max Müllers einträfe, so würden z. B. ganz gewiß die Gelehrten in Rom, in Madrid, in Lissabon und in Paris zu ganz verschiedenen Resultaten gelangen. Ganz gewiß würden die Franzosen die vorhistorische Siebenhügelstadt nach Paris verlegen und die anderen romanischen Sprachen zu Dialekten des Französischen machen wollen. Die Aufmerksamkeit würde vom Interesse gelenkt.

Phantasieren kann ich auch, so gut wie Max Müller. Man denke Europa mit allen arischen Sprachen und aller arischen Wissenschaft hinweggeschwemmt, durch eine der periodischen Meeresrevolutionen, und irgendeinen arabischen Sprachforscher damit beschäftigt, die merkwürdigen Worte der ostafrikanischen Neger zu erklären. Man nehme an, dass bis dahin in Deutschostafrika der deutsche Offizier ein paar hundert deutsche Worte eingebürgert habe, in Britischostafrika der englische Missionar ein paar hundert englische Worte. Man nehme ferner an, dass ein frommer christlicher Negerfürst zufällig ein Exemplar von Wuliilas gotischer Bibelübersetzung besitze. Dann wird so ein arabischer Max Müller, wenn er nur auf der Höhe seiner Wissenschaft steht, höchst wahrscheinlich beweisen können, dass jener Bischof Wulfila ein Neger aus Ostafrika gewesen sei, dass er einen Vater aus Britischostafrika und eine Mutter aus Deutschostafrika (oder umgekehrt) gehabt habe und dass daher das Gemisch von niederdeutschen und oberdeutschen Anklängen im Gotischen zu erklären sei. Dafür müßte aber der Araber freilich schon sehr gelehrt sein.

Der Vorstellung von Mutter- und Tochtersprachen, von einer natürlichen Sprachkindschaft überhaupt widerspricht endlich eine Überzeugung, die in der Wissenschaft immer deutlicher hervortritt, die aber noch niemals konsequent zu Ende gedacht worden ist. Man nimmt jetzt allgemein an, dass die Mundarten nicht aus der Gesamtsprache hervorgegangen sind, sondern dass die Mehrheit der Mundarten immer älter sei als die Einheit der Volkssprache oder gar der Kultursprache. Da scheint es doch doppelt bedenklich, jedesmal und überall die Mehrheit ähnlicher Sprachen auf eine einheitliche Muttersprache zurückführen zu wollen, dreimal bedenklich für Zeiten, in denen es einheitliche Schriftsprachen sicherlich gar nicht gegeben hat.

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