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Tote Begriffe

Whitney sieht trotz aller feinen Bemerkungen dennoch einen gewaltigen Unterschied zwischen den toten Sprachen des Altertums und zwischen den hochentwickelten Sprachen der Gegenwart, denen er ein weit längeres Leben in Aussicht stellt. Er will nicht wahrnehmen, dass Leben und Tod einer Sprache relative Begriffe sind, dass für die heutige Sprache immer und ohne Gnade Teile der gestrigen Sprache schon tot sind, und dass wie auf allen andern Lebensgebieten auch in unseren heutigen Kultursprachen der Wandel immer hastiger vor sich geht. Und es muß mächtig in unsere Anschauungen von Staat und Gesellschaft, von Recht und Sitte eingreifen, wenn wir erkennen, dass alle Sprache des vergangenen Geschlechts für uns weit mehr tote Begriffe enthält als die gleichbleibende und in der Neuzeit durch die Schriftsprache besser konservierte Form ahnen läßt. Nicht nur Gesetz und Rechte, auch die Worte der Sprache erben sich wie eine ewige Krankheit fort. In unserer Sprache schleppen wir unzählige Leichen der Vergangenheit auf unserem Rücken mit uns herum. Nichts, nichts ist mehr lebendig, was in toten Begriffen niedergeschrieben worden ist, und wäre es auch nur vor wenigen Jahren geschehen. Die kritische Auflösung aller historischen Ordnung bedeutet freilich diese Überzeugung, einen Anarchismus, der auch nicht einen einzigen Begriff der überlieferten Sprache für lebendig hält, so lange er sein Leben nicht bewiesen hat; es ist aber ein kritischer Anarchismus, der wiederum an keine Utopien glaubt, an die Begriffsembryonen der Zukunft ebensowenig wie an die Begriffsleichen der Vergangenheit.

Für das kleine Gebiet der Sprache allein jedoch lehrt diese erschreckende Überzeugung, dass nicht in den Sprachänderungen, die wir heute als Sprachfehler empfinden und die morgen Sprachgebrauch sein können, die Krankheit der Sprache steckt. Diese Sprachunrichtigkeiten sind Zeichen des Lebens; die Sprachrichtigkeit aber ist das Zeichen der Krankheit, der Vorbote des Todes. Niemand kann sagen, was tadellos richtiges Deutsch ist; wohl aber gibt es ein zweifellos richtiges ciceronianisches Latein.