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Chinesische Schule

Der Schulunterricht der Chinesen entspricht diesen Vorbedingungen. Er ist von der frühesten Jugend bis zur Mandarinenreife eigentlich nur ein Schreibunterricht. Es scheint, dass die Chinesen die Erlernung der Sprache im weitesten Sinne, das heißt die Erlernung des ererbten Volkswissens der Natur überlassen und nur Literatur lehren. Wir sind wenigstens in den höheren Schulen besser daran. Ich glaube aber, dass wir uns von dem Bildungszustand in China ein richtiges Bild machen, wenn wir uns unser Volksschulwesen nach den Wünschen der Kirche erweitert denken. Die Ähnlichkeit wird um so größer, als auch in China der Jugendunterricht (für Knaben) allgemein, wenn auch nicht obligatorisch, ist und dort ebensoviele Leute schreiben gelernt haben wie bei uns. Was unsere Volksschule den Kindern jedoch bietet, ist außer einer notdürftigen Kenntnis des Lesens, Schreibens und Rechnens, wie es für Wirtschaftsnotizen nützlich ist, fast nur noch eine Summe von Bibelsprüchen und Kirchenliedern, von denen wir manche nicht viel besser verstehen als das Buch J. Denke man sich nun, dass unsere Jünglinge auf Gymnasien und Realschulen und auf den Hochschulen nichts anderes hinzulernten als immer mehr Bibelsprüche und Kirchenlieder und die Fähigkeit, neue Kirchenlieder anzufertigen und die alten zu kommentieren, so hätten wir etwas, was ungefähr unserer theologisch-philologisch-kalligraphischen Gelehrsamkeit und der Geistesbildung der Chinesen entspräche.

Der Hauptunterschied zwischen den chinesischen und unseren Schulen besteht darin, dass die chinesische Literatur buchstäblich Schrifttum ist. Grammatik, Syntax und Inhalt der Sprache, alles steht nur auf dem Papier. Der gute Schüler ist in China also derjenige, der die Zeichen unmittelbar versteht; der bessere Schüler versteht die Zeichen schon, wenn der Lehrer sie mit seinem Fächer in die Luft zeichnet. Der vorgerückte Schüler lernt immer noch nichts Reales hinzu, sondern immer nur neue und seltenere Schriftzeichen. Der Gebildete verfügt über ebensoviele tausend Zeichen wie der Mann aus dem Volke über Hunderte. Der vorgerückte Schüler schreitet also nicht zu Kenntnissen vor, sondern immer nur zu einer weiteren Beherrschung der Schrift. Er lernt nach einem sehr künstlichen System die komplizierten Wortzeichen in ihre Bestandteile zerlegen, die wir uns hüten müssen Silben zu nennen, und gelangt so dazu, mit Hilfe dieses Systems die chinesischen Wörterbücher nachschlagen zu können, die vielmehr Zeichenbücher sind, da jeder Begriff sein besonderes Zeichen hat. Kenner des chinesischen Geistes mögen uns erklären, warum die sonst so praktischen und klugen Chinesen es immer abgelehnt haben, die Buchstabenschrift, die man ihnen zum öftern darbot, anzunehmen. Von einer Bilderschrift ist die chinesische jetzt himmelweit entfernt, mag sie auch einst aus einer solchen hervorgegangen sein. Sie ist vielmehr eine Art Silbenschrift, doch nur so, dass auch ein kompliziertes, aus mehreren Begriffszeichen zusammengesetztes Wortbild immer nur eine Silbe darstellt. Silbenschrift ist die chinesische darum, weil das Zeichen, einfach oder kompliziert, doch sehr häufig nur den Klang angibt und dieser Klang bis zu fünfzig verschiedene Begriffe bezeichnen kann. So kommt es, dass der Knabe nach angestrengter zehnjähriger Übung wohl geläufig schreiben und lesen kann, ohne jedoch den Sinn des Gelesenen oder Geschriebenen klar zu verstehen. Es mag in ihren Gehirnen etwa so aussehen, wie wenn auf unseren oder noch mehr auf französischen Gymnasien eine Klasse von lauter dummen Jungen mit einem dummen Lehrer Philologie treibt. Aber die Knaben machen auch in China ihre Prüfungen, auf Grund deren sie Beamte werden. Denn auch in China wird diese Art von Philologie einzig geschätzt. Das Ergebnis des ganzen Bildungsganges ist eine eigentümliche historische Bildung, welche bei den Mandarinen eine Blüte der Rhetorik erzeugt hat, nur dass die Rhetorik bloß auf dem Papiere steht. Es ist eine Rhetorik mit dem Pinsel in der Hand. Und wie bei uns und noch mehr bei den Franzosen die Rhetorik der Lautsprache mit Deklamationsübungen verbunden ist, so gehört bei den Chinesen zur Bildung eines Gentleman eine vollendete Übung in der Kalligraphie.