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Ein Vorzug der Schriftsprache

Aus der ausschließlichen Schriftlichkeit des chinesischen Geisteslebens ergeben sich kleine und große Unterschiede gegen die europäische Bildung. Bei uns, wo die allgemeine Verbreitung des Schrifttums erst durch den Buchdruck möglich wurde, ist die Erstarrung der Sprache in der Literatur jüngeren Datums, wenn auch bei den verschiedenen Völkern verschieden alt. Der Italiener liest ohne Schwierigkeit noch Dante, der Franzose nur noch Molière, der Deutsche gar nur noch Lessing. Zur Lektüre eines tausend Jahre alten Schriftstellers gehört in Europa schon Gelehrsamkeit. In China hat sich die Lautsprache ebensosehr verändert. Chinesische und europäische Gelehrte haben nachgewiesen (durch Vergleichung alter Reimworte und durch japanische Wörterbücher, welche chinesische Ausdrücke mitteilen), dass die chinesische Sprache vor zweitausend Jahren durchaus anders war als die heutige. Das hindert aber die Chinesen nicht, so alte Literatur zu lesen. Hier ist also ein Punkt, wo die Chinesen denn doch recht zu haben scheinen, wenn sie unsere alphabetisch-phonetische Schrift verwerfen. Es ist nicht paradox, wenn man sagt: die chinesische Schrift kann in jeder Sprache gelesen werden. Es könnte ein Deutscher, ohne ein Wort der chinesischen Lautsprache zu erlernen, die gesamte chinesische Literatur mit den Augen verstehen und sie auf deutsch lesen, vorausgesetzt natürlich, dass sich die chinesische Weltanschauung in deutschen Worten immer wiedergeben ließe.

Was uns bei dieser Übertragung des Chinesischen in eine unserer Sprachen am allerseltsamsten erscheint, das ist bekanntlich der Umstand, dass die chinesische Sprache durchaus flexionslos ist. Das Nomen und seine Beiwörter, das Verbum wird nicht abgeändert, weder in der Schrift noch in der Lautsprache (vorausgesetzt, dass der Tonfall in der Lautsprache nicht einen Ersatz gewährt, der für europäische Ohren schwer aufzufassen ist). Haben wir nun z. B. die drei chinesischen Schriftzeichen schang lao lao vor uns, so könnte auch ein Deutscher sie ohne Kenntnis des Chinesischen richtig dem Sinn nach lesen als: Amt Greis Greis. Was er zu lernen hätte, wäre die Kunst, daraus einen indoeuropäischen Satz zu bilden. Da muß er wissen, dass "Greis" ein Nomen, ein Verbum, ein Adjektiv und jedes dieser Worte in jeder Flexionsform sein kann. Es kann bedeuten Greis, Greise, greis, als Greis behandeln (ehren), als Greis behandelt werden, Greis sein, Greis werden usw. Schang lao lao wird etwa heißen: die Beamten oder die Hofleute ehren die Greise. Nun kann ich mir recht gut einen polnischen Juden denken, der von der Fußwaschung in der Hofburg gehört hat, und der diesen indoeuropäischen Satz mit lebhaftestem Mienenspiel etwa so ausdrückt: "Hof! Greis Greis!" Es wäre diese Ausdrucksweise aber nichts weniger als literarisch, während schang lao lao auf dem chinesischen Papier eine wunderschöne rhetorische Floskel ist.

Die Grammatiker sind gewöhnt, unter Flexionen nur die Formveränderungen des Nomens und des Verbums zu verstehen. Wir haben längst erkannt, dass die Zeiten des Verbums und die Fälle des Nomens eben nur nach dem Charakter unserer Sprache so überaus häufig sind, dass sie um dieser Häufigkeit willen besondere Kategorien abgeben. Man hätte die Formsilben, durch welche Nomina zu Verben werden, und umgekehrt durch welche Nomina und Verba zu Adjektiven werden, durch welche endlich die unendliche Mannigfaltigkeit der abstrahierten und abgeleiteten Begriffe aus Stammworten entsteht, ebensogut Flexionen nennen können. In diesem weitesten Sinne ist die chinesische Sprache flexionslos. Es bleibe dahingestellt, ob die Zeichen für Ackerbau wirklich einen Acker und eine Hand abgebildet haben; jedenfalls bedeutet dieses Doppelzeichen dann Ackerbau, Wachstum, wachsen, gewachsen, Reichtum, Glück, glücklich, Glück wünschen, ohne dass diese Flexionen im weiteren Sinne besonders ausgedrückt werden.