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Chineserei im Abendland

Ich habe kein so kurzes Gedärm, dass ich mich mit meinen oberflächlichen Kenntnissen aus zweiter Hand auf den Streit einlassen konnte, wie alt etwa der Gebrauch dieser sichtbaren Flexionszeichen im Chinesischen sein mag, und ob wirklich erst die Berührung mit dem Ausland nach Beginn der christlichen Zeitrechnung dazu den Anstoß gegeben habe. Hier kommt es mir nur darauf an, überall darauf hinzuweisen, dass sich die wesentlichen Züge des chinesischen Sprachgeistes in unserer gebildeten Sprache wiederfinden. Nur das erste das beste Beispiel. Innerhalb einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Werkstatt wird der Lehrling deutlich verstehen, was der Meister haben wolle, der "Nadel!" ruft. Es hat für mein Ohr schon etwas Chinesisches, etwas Papierenes, wenn in einem solchen Falle ausdrücklich die Haarnadel, die Nähnadel, die Radiernadel, die Kristallnadel usw. verlangt wird. Umgekehrt wird der Schein einer Begriffsdifferenzierung erweckt, wenn ein Händler in Berlin nebeneinander Süßsahnenbutter, Tafelbutter, Tischbutter, Kochbutter und Backbutter anzeigt. Besonders die Unterscheidung zwischen Tafelbutter und Tischbutter erscheint mir als eine Blüte von Chineserei. Der einfache Mann sagt Butter, ist froh, wenn er überhaupt Butter bekommt, und unterscheidet höchstens zwischen guter und schlechter Butter. Das vulgäre Beispiel scheint mir typisch für unzählige vermeintliche Feinheiten der Schriftsprache, namentlich der offiziellen Sprache; nur dass bei uns ein feierlicher Herr die unzähligen gesprochenen Schnörkel beherrschen muß, wo von Mandarinen sechzigtausend gemalte Schnörkel verlangt werden. Auch in China begnügt sich der einfache Mann mit einem Bruchteil dieser gemalten Schnörkel. Man irrt sich, wenn man die Papiersprache der Chinesen für eine größere Belästigung des Gedächtnisses hält als unsere offizielle papierne Sprache. Auch sie ist Ballast für das Gedächtnis, auch sie wird erst durch zehn- bis zwanzigjährige Uebung gewonnen. Wenn es aber wahr ist, dass nur durch die Allgemeinverständlichkeit der chinesischen Papiersprache — weil sie nämlich in allen Dialekten verstanden werden kann — die einheitliche Verwaltung des ungeheueren Reichs möglich ist, so rühmen wir uns doch ebenfalls der einigenden Macht unserer Schriftsprache. Und es klingt wie ein Witz der Sprachgeschichte, dass unsere neuhochdeutsche Schriftsprache, die doch durch Jahrhunderte allein das einigende Band von Deutschland war und es in kritischen Zeiten vielleicht heute noch ist, nachweislich aus der Sprache der deutschen Kanzlei hervorging. Unserem Kanzleistil, insbesondere dem Kurialstil ist nicht einmal die kalligraphische Sorge der Chinesen ganz fern geblieben; ich denke dabei weniger an die so geschätzte schöne Schrift, um welcher willen man in Berlin mit der Zeit Geheimrat werden kann, sondern an unsere gelehrten und sogar politischen Streitigkeiten um Orthographie und Interpunktionen. Orthographie ist zuletzt oft eine Frage der Geschichte und Kalligraphie.

Es ist oben schon flüchtig angedeutet worden, dass die psychologischen Wirkungen des Buchdrucks in China weit früher eintraten als bei uns. Unser Typendruck freilich, der bei unseren vierundzwanzig Buchstaben so epochemachend werden konnte, ist bei den vielen tausend Zeichen der Chinesen dort unpraktisch. Er wurde in China schon im 11. Jahrhundert erfunden, geriet aber wieder in Vergessenheit. Das übliche und das alte, auf das 10. Jahrhundert zurückgehende Druckverfahren der Chinesen ist freilich nur eine Faksimilierung durch Stereotypie. Es entspricht in seiner primitiven Art unserer Vervielfältigung durch den Lichtdruck. Darauf kommt es nicht an. Jedenfalls wurde in China jedes Buch schon im Mittelalter leicht und wohlfeil in Tausenden von Exemplaren hergestellt, und so konnte sich dort viel früher als bei uns die Psychologie des Lesens ausbilden, die Gewohnheit, durch das Gesicht zu verstehen. Das Bestehen einer schriftlichen Sprache und das frühe Aufkommen des Buchdrucks waren Wechselwirkungen, wie man zu sagen pflegt.

Wie wir jede Chineserei bei uns wiederfinden, so auch die oft verspottete Verehrung der Chinesen für ihre Papiersprache. Was dort der Schriftaberglaube, ist bei uns Wortaberglaube. Es handelt sich da nicht nur um Phrasen, wie dass die Schriftzeichen die Augen oder die Spuren der Weisen seien, dass die Chinesen es für unziemlich halten, bedrucktes Papier a posteriori oder sonst unsauber zu gebrauchen, dass sie unnütz gewordene Druckschriften lieber verbrennen als zu Packpapier verwenden. Ist es doch ein rührender Zug der Chinesen, dass sie Vereine gebildet haben zum ehrfurchtsvollen Verbrennen alter Druckschriften. Ich denke an abergläubischere Gebräuche. Es werden bei der Leichenbestattung gewisse Papiere verbrannt oder diese Papiere dem Toten in die Hand gegeben. Noch toller mutet es uns an, wenn wir bei den Chinesen beschriebenes Papier als Heilmittel kennen lernen. Wenn ein Arzt dort die nötige Arznei nicht gleich herbeizuschaffen vermag, so schreibt er wohl die Verordnung auf ein Stück Papier, verbrennt es und läßt den Kranken die Asche in einem Tränklein einnehmen. Darüber lacht der Europäer, weil er dieselben Dinge nicht mit Papier, sondern mit gesprochenen Worten tut. Oder ist es etwas anderes, wenn Millionen in Europa sich in Krankheitsfällen "besprechen" lassen, ja selbst wenn der europäische Doctor medicinae schon für einen Heilkundigen gilt, sobald er in lateinischen Worten die Diagnose gestellt hat. Die symbolische Bedeutung des Rezepts, das als Papierasche eingenommen wird, geht aber noch weiter. Manchem mag die Vergleichung gesucht erscheinen, die sich mir aufdrängt. Was in der Seele des Chinesen vorgeht, wenn er Rezeptasche gläubig verschluckt, was in der Seele des europäischen Kranken vorgeht, wenn er sich seine Kopfrose besprechen läßt, oder wenn er von der lateinischen Diagnose des Herrn Geheimrats eine Heilwirkung erwartet, das liegt zu unterst dem höheren Gebrauche der Sprache zugrunde, dem Glauben an ihre Fähigkeit, die Wirklichkeits-welt erkennen zu lassen. Auch das chinesische Rezept hat ja doch nur Bedeutung als ein Erinnerungszeichen für das Heilmittel, das verschrieben worden ist; die Naivetät des Chinesen, der Rezeptasche verschluckt, besteht ja doch nur darin, dass er von dem Erinnerungszeichen eine reale Wirkung erwartet. Steht es nun anders um den höheren Gebrauch der Sprache, um ihren Gebrauch zum Zwecke der Welterkenntnis? Nur als Erinnerungszeichen für Sinneseindrücke haben Worte überhaupt irgend einen Wert. Sprechen wir nun Worte noch aus, verbinden wir noch Begriffe, nachdem ihr Zusammenhang mit der Sinnenwelt uns verloren gegangen ist, nachdem sie dem Schicksal jeder Sprache verfallen und abgeblaßt sind, so verschlucken wir nur noch Rezeptasche. In Rauch verflüchtigt hat sich das Papier der Chinesen, zu leerem Schall geworden sind unsere einst lebendigen Begriffe. Name ist Schall und Rauch, bei uns wie bei den Chinesen.