Zum Hauptinhalt springen

Keilschrift

Es liegt in dieser Abschätzung der Sprachen, in dieser geringeren oder stärkeren Verachtung der sogenannten flexionslosen Sprachen, ein indoeuropäischer Hochmut, der verwandt ist mit dem griechischen Begriff barbarisch. Wir schütteln den Kopf über alles, was anders als wir sich räuspert und spuckt. Wenn es noch bei der stolzen Wiederholung der Tatsache bliebe, dass in unseren Ländern der flektierten Sprachen seit einigen Jahrhunderten infolge hübscher Erfindungen der Komfort gestiegen ist, so wäre gegen die bloße Behauptung nichts einzuwenden, obgleich es schwer wäre, zwischen der Konjugation des Verbums und der Erfindung der Dampfmaschine eine ernste Verbindung herzustellen. Obgleich ferner die Engländer, die besten Erfinder unseres komfortablen Zeitalters, bekanntlich die Flexionsformen sträflich vernachlässigen. Es sind aber gerade ethische Begriffe, die man mit der Einteilung der Sprachen in Verbindung bringt, und dabei hört beinahe das Lachen auf. Ich bin, bei sehr mangelhafter Kenntnis, recht skeptisch gegen die Ergebnisse der Keilschriftforschung. Wenn aber diese Zeichen nicht bloß eine künstliche Schrift, sondern eine wirkliche Natursprache bewahrt haben, wenn diese Sprache wirklich agglutinierend war, so hätten wir außer dem Chinesischen ein neues Beispiel dafür, dass Urweisheit, diesmal die Weisheit der Chaldäer, die ja heute noch im Katechismus gelehrt wird und im Kalender, in flexionslosen Sprachen gefaßt worden ist.

Doch will ich mich hüten, ernsthaft und vertrauensvoll von Keilschrift oder Hieroglyphen zu sprechen, solange ich nicht in der Lage war, diese Forschungen selbst genauer nachzuprüfen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass über die erste dieser Wissenschaften einmal ein furchtbarer Bankrott hereinbrechen werde. Man stelle sich einmal vor, wir besäßen vom Chinesischen nichts als ein paar Schriftdenkmäler, es gäbe auf der Welt keinen chinesisch sprechenden Menschen. Und ich frage, was würden dann die Chinologen aus diesen Denkmälern wohl haben entziffern können? Wer würde dann entscheiden, ob ein paar solcher Schriftzeichen den "heiligen König" oder "fünfmalhunderttausend Säue" bedeuten?

Chaldeos ne consulito! sagte der alte Cato. A. von Gutschmid hat in seinen "Neuen Beiträgen zur Geschichte des alten Orients" das Wichtigste zusammengefaßt, was sich gegen die mangelhaft kontrollierte Assyriologie vorbringen läßt. Eine Mode deutscher und englischer Theologen habe Inschriften mit alttestamentlichen Namen zu Paradestücken gemacht; ein großer Teil der Könige besitze die Namen nur auf Kündigung (S. VIII); man könnte froh sein, wenn unter den geographischen Namen drei vom Hundert sich mit leidlicher Sicherheit verifizieren ließen (S. 36); eigentümlich sei der assyrischen Schrift, das heißt ihrer Deutung eine lange Reihe von Schikanen (S. 7), wozu außer Polyphonie, Allophonie auch die subsidiären Schreibfehler gehören; die Tradition der ersten Entzifferer spiele eine gefährliche Rolle (S. 10); der Unterschied der einzelnen Entzifferungsversuche falle in die Augen (S. 37); am Ende steht das furchtbare Wort: "bei der Enträtselung einer unbekannten Schrift und Sprache sei Enthusiasmus schlimmer als Schwindel" (S. 142). Gutschmid tadelt allgemein (S. 141), dass zwischen dem was sicher, und was nicht sicher ist, nur in sehr ungenügender Weise geschieden wird. Und bei alledem ist Gutschmid kein radikaler Kritiker; er wendet sich nicht so sehr gegen die Entzifferung selbst, als gegen die historische Deutung des Entzifferten. Gutschmids Schrift (aus dem Jahre 1876) wird totgeschwiegen oder als Schrulle belächelt. Als ob es seitdem besser geworden wäre.

Eine sehr gerühmte Übersicht "Die Entzifferung der Keilschrift" von Messerschmidt (1903) führt die Entwicklung bis zur Gegenwart, lehrt einige Entdeckungen von ungleichem Grade der Wahrscheinlichkeit, löst mir aber das Rätsel nicht: mit welchem Rechte die heutigen Assyriologen zuversichtlich behaupten können, dass sie Keilschrift lesen und übersetzen könne wie man Cornelius Nepos liest. In der kleinen Grammatik von Ungnad (1906) finde ich Bemerkungen über die Lautwerte des Babylonischen, so mikroskopischer Art, wie sonst nur in Dialektstudien lebender Sprachen. Und nun die Grade der Wahrscheinlichkeit!

Aus dem Abriß von Messerschmidt habe ich recht fleißig und genau siebenundzwanzig Hypothesen zusammengestellt, auf deren Wahrscheinlichkeit der Wert der Entzifferungsversuche (seit 100 Jahren) beruht. Man bedenke, dass auch der scharfsinnige erste Deutungsversuch von Grotefend nur den Wert einer Hypothese hatte. Nun steht jedesmal die neue Hypothese mit ihrem Wahrscheinlichkeitswert auf der Tradition der vorangegangenen. Wenn ich nun großherzig zugebe, dass der durchschnittliche Wahrscheinlichkeitswert jeder einzelnen Hypothese gleich sei 1:2, so ist bei der Zahl von siebenundzwanzig aufeinandergestellten Hypothesen der Wahrscheinlichkeitswert der letzten Ergebnisse wirklich klein genug, um meine Skepsis zu rechtfertigen.