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Morphologische Klassifikation

Mit gutem Gewissen kann die Sprachwissenschaft doch nur von einer Morphologie zweier Sprachgruppen reden, der semitischen und der indoeuropäischen. Und auch von diesen beiden Gruppen sind wieder nur einige indoeuropäische Sprachen historisch so genau durchforscht, dass eine ernsthafte Geschichte ihrer Bildungsformen begonnen werden könnte. Unsere Nachrichten über die unzähligen andern Sprachen der Erde stammen von so verschieden vorgebildeten Beobachtern her, sind an Zahl und Zuverlässigkeit so ungleich, sind in den meisten Fällen so lückenhaft und entbehren überdies zumeist so vollständig einer historischen Unterlage, dass schon darum ihre morphologische Klassifikation eher einem Kartenhause als einem soliden Gebäude gleicht. Man lehrt, dass die formalen Bestandteile der Worte sich aus ursprünglich selbständigen Worten entwickelt haben; dass also auch den Bildungssilben die sogenannten Wurzeln zugrunde liegen; dass (und dieses vermuten bloß die vorurteilslosesten Forscher) die Bedeutungen jener Wurzeln nicht den Kategorien unserer heutigen Grammatik entsprochen haben; dass endlich in irgend einer alten Zeit jede Sprache in der formlosen Zusammenfügung solcher Wurzeln bestand.

Mit Hilfe solcher Allgemeinheiten kann man noch nicht klassifizieren. Ordnen kann man nur nach bestimmten Merkmalen. Haben nun die Sprachen keine fixierbaren Merkmale, so gibt es doch Ähnlichkeiten im Lautmaterial, welche zu einer ersten Klassifikation dienen können. Französisch "homme" und lateinisch "homo", englisch "man" und deutsch "Mann" sind einander nicht unähnlicher als ein Wolf und ein Hund. Solche Ähnlichkeiten verwischen sich in den Beziehungen, die man die weitere Verwandtschaft nennt, zwar für den Ungelehrten, der die Zwischenstufen nicht kennt; für den Kenner aller Zwischenstufen aber ist die Ähnlichkeit (die sogenannte Verwandtschaft) zwischen "Tochter" und dem slawischen "dci" nicht minder wahrnehmbar. Nun hätte man allerdings eine derartige Ordnung der bekannteren indo-europäischen Sprachen nach der Ähnlichkeit ihres Lautmaterials die morphologische Ordnung nennen sollen. Man hat aber zufällig vorgezogen, alle diese Ähnlichkeitsfälle unter den Begriff der etymologischen Sprachverwandtschaft zu sammeln und den Begriff der Morphologie auf diejenigen Fälle anzuwenden, in denen von irgend einer Ähnlichkeit des Lautmaterials nicht die Rede sein kann. Also auch diejenigen Übereinstimmungen, wo z. B. das Lautmaterial des Verbums "haben" oder "tun" aus der einen Sprache sich in einer Bildungssilbe der Verben einer andern Sprache wiederfindet, gehören noch der Etymologie an und nicht der Morphologie. Die reine Morphologie beschäftigt sich mit denjenigen Übereinstimmungen, welche grammatische Kategorien betreffen und ohne greifbare oder nachweisbare Lautähnlichkeit einzig und allein als Ähnlichkeit grammatischer Analogien gedacht werden können.

Dennoch hat man sich nicht gescheut, eine morphologische Klassifikation auf diesen Schatten eines Lufthauchs zu begründen, ja sogar aus solcher Klassifikation den Nachweis von Verwandtschaften zu führen. Nicht die allgemeine Verwandtschaft, welche die Entwicklungslehre voraussetzt, hat man behauptet, sondern einen bestimmten näheren Verwandtschaftsgrad. Ebensogut könnte man nach einem speziellen Ahnherrn der Fliege und des Elefanten suchen, weil beide die morphologische Erscheinung eines Rüssels besitzen. Der Grund dieser Liebe zu phantastischen Annahmen liegt nicht nur in der weit verbreiteten dichterischen Neigung der Menschennatur, sondern wohl auch darin, dass das Objekt der Sprachwissenschaft so schwer festzuhalten ist. Wie der Flug der Vögel unendliche Zeiten hindurch nicht verstanden wurde, wie man erst jetzt, seit Erfindung der Momentphotographie, mit seiner Beobachtung beginnt, wie der Naturbeschreiber des Mittelalters gewöhnlich ohne Kenntnis der Tiere aus den schlechten Berichten älterer Schriftsteller seine Schlüsse zog, so bearbeitet heute noch der Sprachforscher an seinem Schreibtisch häufig diejenigen Zufallsworte und -wortformen, die vielleicht ein abergläubischer Missionar oder ein ehrgeiziger Afrikareisender gelegentlich einmal aufgeschnappt hat.