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Einverleibende Sprachen

Gegen die Aufrechthaltung der agglutinierenden Klasse als einer Vorstufe (einer Vorstufe nach Geschichte und Wert) unserer flektierenden Sprachen würde auch eine Tatsache sprechen, mit der sich die morphologische Klassifikation einmal gründlich abfinden müßte. Soviel ich weiß, werden jetzt die Indianersprachen Amerikas nicht mehr zu den agglutinierenden Sprachen gerechnet. Pott, vielleicht der gelehrteste unter den Begründern der vergleichenden Sprachwissenschaft, hat sehr gewissenhaft den drei Gruppen der morphologischen Klassifikation noch eine vierte hinzugefügt, die der einverleibenden Sprachen. Die Mundarten der jetzt lebenden Indianer sind solche einverleibende Sprachen, die nach den Berichten englisch sprechender Menschen den Unterschied zwischen Wort und Satz so gut wie aufheben. Über die historische Entwicklung dieser Sprachen wissen wir buchstäblich nichts, weil die europäischen Eroberer, als sie auf die hoch entwickelte Kultur Mittelamerikas stießen, sich darauf beschränkten, das Christentum einzuführen und Gold auszuführen; weder zum Morden und Taufen, noch zum Rauben brauchte man die Sprache der Eingeborenen zu studieren. So stehen die Amerikanisten einer historisch unerklärlichen Erscheinung gegenüber. Das Wesentliche dieser Indianersprachen — über deren Verwandtschaft oder Ähnlichkeit man übrigens völlig im unklaren ist — scheint darin zu bestehen, dass durch Einverleibung des Objekts und der adverbialen Bestimmungen in das Verbum (in welchem zugleich das Subjekt enthalten ist) ein einziges Wort ausdrücken kann, was wir in einem kürzern oder längern Satz auseinander legen. Die phantastischen Erzählungen von Missionaren, dass man dergestalt aus einer einzigen Verbalwurzel zweimalhundert-tausend oder nach einer andern Zählung siebzehn Millionen Wortbildungen machen könne, erwähne ich nur, um den Eindruck zu beleuchten, den solche Indianersprachen auf Indoeuropäer machen konnten. Die Ziffern selbst sind offenbar nicht gezählt, sondern aus unfruchtbaren Kombinations- und Permutationsrechnungen hervorgegangen. Aber auch die Wirklichkeit ist für uns noch sonderbar genug. Ich gebe einige wenige Beispiele nach Whitney. Es lassen sich nämlich in den Indianersprachen Beziehungen von Tätigkeiten und Umständen, die wir durch ganze Worte oder Nebensätze ausdrücken, einfacher durch einverleibte und einverleibende Partikeln bezeichnen. Das einfachste Beispiel ist, dass der Indianer das Objekt einer Handlung dem Verbum einverleibt. Unsere drei Worte "ich esse Fleisch" werden bei ihm dadurch zu einem einzigen Worte, dass er sagt "ich-Fleisch-esse". Unser Satz aus sechs Worten "ich gebe meinem Sohn das Brot" heißt im Indianischen "ich-es-ihm-gebe-Brot-mein-Sohn". In einer indianischen Bibelübersetzung ist der Satz "er fiel auf die Kniee nieder und betete ihn an" mit einem einzigen Worte wiedergegeben, welches zwölf Silben hat und welches ich nicht nachmalen mag, da ich es nicht verstehe und darum nicht nachprüfen kann.

Aus ähnlichen Gründen verzichte ich darauf, die Einteilung abzuschreiben, welche nach dem augenblicklichen Stande der Kenntnis die Indianersprachen in morphologische Gruppen teilt. Für uns muß es genügen, dass man auf Grund einer morphologischen Ähnlichkeit eine Verwandtschaft aller amerikanischen Sprachen angenommen hat, trotzdem unter ihnen Sprachen von ganz anderem, selbst von isolierendem Bau gefunden worden sind und trotzdem auch in Europa die Einverleibung gar nichts Seltenes ist, wie denn im Ungarischen und Türkischen wenigstens die Pronomina in jedem Kasus dem Verbum einverleibt werden können. Ist doch sogar das Passivum des Lateinischen in ähnlicher Weise entstanden, wenn anders z. B. "amor" richtig aus "amo-se" erklärt wird. Endlich hat man schon seit langer Zeit in der baskischen Sprache, diesem Kreuz der Sprachwissenschaft, Wortungeheuer beobachtet, die mit den sätzefressenden Worten der Indianer eine auffallende Ähnlichkeit haben.