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Wurzeln vorhistorisch

An einem drastischen Beispiele will ich zeigen, wie unsere Kenntnis der Geschichte der Sprachen von dem Zufall der Erhaltung älterer Sprachen abhängt. Wir haben im Deutschen das Wort "kosten", welches bekanntlich zwei sehr auseinandergehende Bedeutungen hat, nämlich "schmecken" und "im Preise stehen". Ein ähnliches Wort finden wir im Englischen, im Französischen und im Italienischen. Wäre uns nun von der lateinischen Sprache zufällig nichts erhalten — und man wird mir zugeben, dass die Erhaltung der lateinischen Sprache für die Sprachwissenschaft ein Zufall ist —, so wäre "kost" eine Wurzel, die nicht geringe Schwierigkeiten machen würde. Wie würden die Philologen die Logik auf den Kopf stellen, um den Preis und den Geschmack einer Ware unter einen gemeinsamen höheren Begriff zu bringen! Wahrscheinlich würden sie zu dem Schlüsse kommen: Was viel kostet, das kostet man gern, das heißt: was teuer ist, schmeckt gut. Nun reicht aber unsere Kenntnis von der Sprachgeschichte weit genug zurück, um das eine "kosten" mit dem Worte "kiesen" in Zusammenhang zu bringen und es schließlich von dem lateinischen gustare (gusto, goûter) abzuleiten. Das andere "kosten" (coûter) ist aber nachweisbar aus dem lateinischen costare und dieses aus constare entstanden, so dass unser kosten und konstatieren (französisch coûter und constater) aus den gleichen Wurzelsilben fast identisch entstanden sind. Ich wiederhole: man muß mit sprachwissenschaftlicher Blindheit geschlagen sein, um nicht zu begreifen, dass die sauber geordneten Wurzeln des Sanskrit jedesmal aus älteren zusammengesetzten Worten entstanden sein können, wie unser "kosten" aus "constare". Und es ist eine Tat sprachwissenschaftlicher Verzweiflung, wenn einzelne Gelehrte sich mit der Phantasie geholfen haben, die lautreicheren Sanskritwurzeln wären abgeleitet, nur die einfachsten, die bloß aus einem Konsonanten und Vokal bestehen, wären echte Wurzeln. Auch nicht der Schimmer eines Beweises oder nur eines Wahrscheinlichkeitsbeweises existiert für diese Behauptung. Sie steht wissenschaftlich auf der Höhe der alten Lehre, die Bahnen der Planeten müßten Kreislinien sein, weil der Kreis die einfachste oder die vollkommenste Linie sei, oder auf der Höhe der Physiologie des Aristoteles. Die Sanskritgelehrten sollten niemals vergessen, dass das Sanskrit in keiner historischen Zeit anders als eine tote Sprache erscheint, dass wir und sie nichts wissen von dem Sprachgefühl Wurzeln vorhistorisch 243 sanskritredender Menschen, dass also das lebendige Sanskrit bereits einer vorhistorischen Zeit angehört, seine angeblichen Wurzeln also einer Vorgeschichte in zweiter Potenz. Alles, was man uns über Form und Inhalt der indoeuropäischen Wurzeln erzählt, ist im allgemeinen apriorisch konstruiert, im einzelnen phantastisch und unwahrscheinlich. Phantastisch und unwahrscheinlich sind in den meisten Fällen die witzigen Versuche, den Wurzeln eine sinnfällige, den kindlichen Vorstellungen angemessene Bedeutung zu geben. Phantastisch und unwahrscheinlich sind die Beweise dafür, dass die angeblichen Wurzeln der angeblichen indoeuropäischen Ursprache sich aus drei Vokalen und zwölf (eigentlich nur zehn) Konsonanten gebildet hätten. Da sollen die Vokale e und o und der Konsonant l noch nicht vorhanden gewesen sein. Das lehrten über eine vorhistorische Zeit Männer, die über die Aussprache des Lateinischen und selbst des Mittelhochdeutschen im unklaren sind. Das Volk der Sanskritwurzelsprache soll diese Laute noch nicht zustande gebracht haben, während der ontogenetische Abriß der Entwicklung, die Sprache unserer Kinder, zeigt, dass die Säuglinge vor Ablauf des vierten Monats e, o und l schon deutlich artikulieren.

Dieses Märchen von den mondgefallenen Wurzeln war für den ruhebedürftigen Menschengeist eine hübsche Hypothese, solange die Überzeugung herrschte, also ungefähr zwei Generationen hindurch, dass das Sanskrit die leibliche Großmutter aller indoeuropäischen Sprachen sei. Dann hatte man die Urahne-Henne und in den Wurzeln das Ei dieser Henne und konnte Amen sagen. Seitdem aber in den letzten Jahrzehnten die Mutterschaft oder Großmutterschaft des Sanskrit aufgegeben worden ist, seitdem zwischen allen indoeuropäischen Sprachen für den vorurteilslosen Kritiker nur eine Anzahl von Ähnlichkeiten, von größtenteils unaufgeklärten Ähnlichkeiten übrig geblieben ist, scheint mir die Erscheinung verschwunden zu sein, für deren Erklärung die Wurzelhypothese einen Sinn hatte. Und seitdem hätte man sich mehr mit den historischen Tatsachen beschäftigen sollen, die der Wurzelhypothese schnurstracks widersprechen.