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Wurzeln und Grammatik

Nur mit Hilfe der Schrift, nur in Wörterkatalogen läßt sich nach Wurzeln spüren. In der lebendigen Sprache weiß unser Sprachgefühl immer nur von relativen Wortstämmen, niemals von Wurzeln. Und wie die Sprache der Wirklichkeit nicht in Wörterbüchern enthalten ist und nicht in den Regeln der Grammatik, wie vielmehr selbst die Einheit einer Volkssprache nur eine Abstraktion ist, wie ein wahrhaftes Sprachleben nur da atmet, wo von einem lebendigen Menschen momentan ein lebendiges Wort in allen Beziehungen seiner lebendigen Formen ausgesprochen wird, so dürfte eine vorurteilslose Sprachwissenschaft nur im einzelnen momentan ausgesprochenen, lebendigen Worte etwas Wirkliches sehen. Nur ein Blödsinniger oder ein vom Monde gefallener Mensch könnte glauben und sagen, die Lilie habe aus ihrer Zwiebel, der Weizenhalm aus dem Weizenkorn den ersten Anfang genommen; wer nur ein paar Jahre auf der Erde gelebt hat, der weiß, dass das Weizenkorn wiederum die Frucht des Weizenhalms war. Wollen wir der Sprachwissenschaft eine würdige Aufgabe geben, so müssen wir sie darüber befragen, nicht nur wie die Wortstoffe sich gebildet haben, sondern auch wie die Wortformen, die grammatischen Analogien entstanden sind. Man hat die Geschichte der jüngsten Worte und die Geschichte der jüngsten grammatischen Formen mit Fleiß und Ausdauer eine kurze Strecke zurückverfolgt. Für die Geschichte des menschlichen Denkens oder Sprechens aber wäre es viel wichtiger, sich die Entstehung der Vorformen der Grammatik ausdenken zu können, sich vorzustellen, wie es im menschlichen Gehirn aussah, als der Mensch mit seiner jüngeren Sprache die undifferenzierten Ausdrücke bezeichnete, aus denen später die sogenannten Kategorien, die schablonenhaften Menschenbegriffe: Ding, Tätigkeit und Eigenschaft — hervorgegangen sind, Menschenbegriffe, denen in der Natur nichts entspricht. Und diesem Versuch einer psychologischen Forschung stellt sich die brutale Lehre von den Wurzeln frech entgegen. Anstatt psychologisch bei Tieren und Naturvölkern anzufragen, wie sich in ihren Köpfen die Sprache aufbaue, hat man eine Ahnung von diesem Urzustände in den Wurzeln zu versteinern gesucht und ihnen rein grammatisch eine Summe von Redeteilen untergeschoben. Die Wurzel ist eher das letzte Wort der Grammatik als das erste Wort der Sprache. Wir kennen keine alte Zeit, in welcher der Nominativ des Dingworts und der Infinitiv des Zeitworts nicht seine besondere Form hatte, trotzdem der Nominativ und der Infinitiv nach unserem Sprachgefühl dem Wurzelbegriff am nächsten kommen; gerade erst moderne Sprachen sind (vielleicht durch Logik und Grammatik bestimmt) dazu gelangt, Nominativ und Infinitiv zu einer Art von Wortstamm zu vereinfachen.

So gefährdet die Hypothese von einer Wurzelsprache die würdigste Aufgabe der wissenschaftlichen Sprachgeschichte. Kindlich wie die Bibel oder die griechische Mythologie hält die Sprachwissenschaft auf ihrem Wege still und sagt plötzlich: weiter geht's nicht, da muß eine Gottheit aushelfen, da nehmen wir Wurzeln an. Kein Forscher, der diese Gottheit nicht einmal unbewußt anrufen würde. Der arme Menschengeist will ausruhen. Das Ruhebedürfnis verleitet den Menschengeist, in der Wüste seines Erkenntnisstrebens die Fata Morgana eines Ruheplatzes zu sehen; die Forscher glauben an ihre Wurzeln. Immer und überall ist die Wissenschaft einer Zeit der Ausdruck für das sehnsüchtige Ruhebedürfnis des armen Menschengeistes. Nur die Kritik, wo sie in einem noch armem Kopfe lebendig ist, darf nicht ruhen, weil sie nicht ruhen kann. Sie muß die Wissenschaft aus ihrem Schlafe reißen, ihr die Illusion der Oase nehmen und sie weiter treiben auf dem heißen, mörderischen und vielleicht ziellosen Wüstenwege.