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Volksetymologie

Die zweite Tatsache möchte ich so aussprechen, dass die Volksetymologie in der wirklichen Entwicklung unendlieh einflußreicher gewesen sein muß, als die Sprachwissenschaft sich träumen läßt. Seitdem der Begriff der Volksetymologie aufgekommen ist, seit den reizvollen Untersuchungen von Förstemann also, versteht man darunter immer nur Ausnahmsfälle, genauer ausgedrückt solche Fälle, in denen die wissenschaftliche Etymologie die Geschichte eines Wortes anders erklärt hat, als die gegenwärtige Form des Wortes den Laien vermuten Heß. Wir besitzen eine ganze Anzahl klassischer Beispiele für die deutsche Volksetymologie. Als das Volk vergessen hatte, dass das althochdeutsche "sin" so viel wie "allgemein" bedeutete und in der Bibelstunde wie von der Kanzel nach wie vor das Wort "Sintflut" hörte, erklärte es sich schon im frühen Neuhochdeutsch dieses Strafgericht aus der Sündigkeit der Menschen und sprach und schrieb von da ab "Sündflut". Aus dem mittelalterlich lateinischen Wort "arcubalistus" oder "arbalista" (Bogenwurfmaschine) wurde durch falsche Deutung der Laute unser "Armbrust". Unser "Bockbier" oder "Bock" entstand durch Verkürzung aus Einbock oder Eimbeckerbier. Unser "Friedhof" entstand aus dem mittelhochdeutschen "vrithof", welches nicht den Frieden, sondern einen eingefriedigten Platz um die Kirche herum bedeutete. In allen diesen Beispielen hat die schriftliche Sprache sicherlich viel zur dauernden Festsetzung der Volksetymologien beigetragen. Die Anstrengungen der Gelehrten, die gegenwärtige Schreibung durch eine etymologisch richtige zu ersetzen, müssen unverständig genannt werden. Sollen wir uns gewöhnen anstatt Sündflut wieder Sintflut zu schreiben, so müßten wir auch nachholen, was die lebendige Sprache versäumt hat, und lautgesetzlich richtig Freithof schreiben, endlich auch Arbalist anstatt Armbrust.

Für den psychologischen Vorgang ist es nicht gleichgültig, ob die historische Etymologie der Volksetymologie gänzlich widerspricht oder nicht. Bei "Friede" haben wir, auch wenn wir den wirklichen Zusammenhang kennen, gar nicht nötig, dem Worte einen anderen Vorstellungsinhalt zu geben. Das Wort "Friede", das jetzt in unserem "Friedhof" mit enthalten ist, ist etymologisch mit einem eingefriedigten Platz nahe verwandt und bedeutet so viel wie "Schonung", das ja in beiden Bedeutungen vorhanden ist. Nachdem wir aber aus "Arbalist" "Armbrust" gemacht hatten, was doch eine ganz grausame Wortzusammenstellung ist, mußten wir bei dem Worte an eine Körperstellung denken, also ein Bild festhalten, welches vorher mit dem Worte nicht verknüpft war. Sprechen wir das allgemein aus, so werden wir sofort die Wichtigkeit begreifen, welche die Volksetymologie in der Sprachgeschichte gehabt haben muß.

Wir werden erfahren: neue Worte und neue Bedeutungen sind dadurch entstanden, dass (durch Metapher und Analogie) Ähnlichkeiten im Sprachschatz oder in der Wirklichkeitswelt wahrgenommen wurden. Die Beherrschung unseres ungeheuren Vorstellungs- und Sprachmaterials wäre nun gar nicht möglich, wenn wir nicht für Stammsilben und Bildungssilben analogische Gruppenbilder in uns entwickelt hätten, die eigentlich Abstraktionen sind, die aber, etwa wie die Namen der Tierarten, die Ordnung erst möglich machen. Wir fassen unter der sogenannten Stammsilbe "schneid" viele verwandte Begriffe zusammen: die Schneide des Schwertes, das Schneiden, das Schneidern, den Schneider, und werden auch bei schnitzen und schnitzeln und Schnitt, Schnittlauch, Brotschnitte u. dgl. an den Stamm erinnert. Dann wieder bildet das Imperfektum "schnitt" eine Gruppe mit litt, ritt, glitt usw. "Schneider" bildet eine andere Gruppe mit Eäuber, Segler usw. Diese Gruppen bleiben so lange bestehen, bis eines Tages durch zufälligen Laut- oder Bedeutungswandel eine Wortform sich von ihrer Gruppe loslöst und nun Anlehnung an eine andere Gruppe sucht. Auf die Länge kann sich ein Wort ohne Analogie schwer behaupten. Wir sahen, wie das Wort "sin" verloren ging und wie die erste Silbe von "Sündflut" darum in der Gruppe "Sünde" Unterschlupf suchte und fand. Umgekehrt entstand das deutsche Wort "Schuster" aus dem lateinischen "sutor"; als es aber nicht mehr als Fremdwort empfunden wurde, lehnte es sich an die Gruppe "Schneider" an und wird von uns so empfunden, als ob es ganz regelrecht dazu gebildet wäre. Nun scheint es mir doch unzweifelhaft zu sein, dass mit der Zeit die meisten Worte einmal durch Lautwandel oder Bedeutungswandel den deutlich empfundenen, etymologisch empfundenen Zusammenhang mit ihrer natürlichen Gruppe verlieren müssen und dann eine neue Gruppe aufsuchen, so wie Menschen, die auswandern, bald einen neuen Kreis finden. Man muß nur erkennen, dass es auch Volksetymologie ist, wenn die Endsilbe von "Schuster" als eine Analogie der Endsilbe von "Schneider" empfunden wird. Dann wird man schon fühlen, ein wie ungeheures Gebiet die Volksetymologie umfaßt. Mir scheint es auch innere Volksetymologie, wenn alle Welt "ich war" als das Imperfektum, "ich bin" als das Präsens von "sein" empfindet. Auch Kasusformen können so volksetymologisch neu verwendet werden; so ist uns der Genitiv als Form der Zeitbestimmung im allgemeinen verloren gegangen, nur in einigen, den gebräuchlichsten zeitbestimmenden Worten haben wir noch den alten Gebrauch erhalten; wir sagen noch des Morgens, des Abends, eines Tages, eines schönen Tags. Es hat sich daraus eine Gruppe für sich entwickelt; die Volksetymologie sieht im "s" das Wesentliche und bildet (ohne an den falschen Genitiv zu denken) auch das Wort "Nachts". Unser geheimnisvoll-schönes Wort "mutterseelenallein" bedeutete im Mittelhochdeutschen so viel wie "getrennt von der Seele der Mutter"; "allein" konnte in diesem Sinne mit dem Genitiv verbunden werden; diese Vorstellung ist uns verloren gegangen, und wer ein feines Ohr für unsere Muttersprache hat, wird bemerkt haben, dass wir die neue Volksetymologie für "mutterseelenallein" noch nicht besitzen, dass jeder Dichter, der das Wort gebraucht, gewissermaßen seine eigene Volksetymologie damit verbindet. Ein anderes Wort, welches seine ganz offenbare Etymologie verloren hat, ist unser "Ritter". Es ist in mancher Beziehung interessant. Würde man einen einfachen Mann aufmunternd fragen, wo das Wort herkommt, und wüßte dieser einfache Mann (was durchaus nicht sicher ist) von der alten Bedeutung, so würde er sich allerdings für einige Minuten in einen etymologischen Forscher verwandeln, an "reiten" denken und die beiden Worte in einen halbwegs richtigen Zusammenhang bringen. Wäre aber der einfache Mann nicht nachdenklicher Natur oder wüßte nicht, dass man sich früher unter Ritter einen berittenen Mann vorstellte, so würde er nicht auf die Ableitung kommen, wie sie auch nicht mehr in unserer Vorstellung ist, sobald wir Ritter rein als Standesbezeichnung gebrauchen oder z. B. Rittergut sagen. Wer aber schon auf eigene Faust etymologisiert und "Ritter" von "reiten" ableitet, der beruhigt sich dabei und fragt nicht mehr, wie das Wort "reiten" zu seiner Bedeutung gekommen ist. Nun aber ist diese Bedeutung selbst für unsere kurze historische Zeit noch ziemlich neu. Die ältesten Deutschen scheinen die Fortbewegung auf dem Pferderücken so wenig gekannt zu haben wie die Helden des Homeros und wie die Indier, die das alte Sanskrit sprachen. Nirgends finden wir ein Stammwort für "reiten". Auch das deutsche Wort bedeutete nur "reisen", sich auf der Erde fortbewegen. Der Reiter oder Ritter war also ein "Reisiger", ein "Reisender" gewesen. Als das Wort dann ganz besonders das Reisen zu Pferde zu bedeuten anfing, bildete es für die Volksetymologie einen neuen "Stamm". Und während das deutsche Wort in der Form "reitre" ins Französische überging und dort schließlich so herunter kam, dass es einen zerlumpten Weltläufer mit bedeutete, drang das romanische Wort "rutarii", welches eine Art Räuber bezeichnete, in der Form "Reuter" nach Deutschland, und die Volksetymologie setzte es so unmittelbar neben unser "Reiter", dass die Schreibung "Reuter" eine Zeitlang allgemein wurde. Hätte sich nun dieser Vorgang in der vorschriftlichen Zeit der Sprache abgespielt, so besäßen wir vielleicht nur das Wort "Reuter" und dazu das Verbum "reuten" und müßten es gründlich falsch erklären.

Ich muß auch Bildungsformen, und wären es nur einzelne Buchstaben, für volksetymologisch erklären, die in historischer Zeit, also nachweisbar, zu ihrer Formbedeutung gekommen sind. So ist vielleicht z. B. das "n" in den Worten der sogenannten schwachen Deklination im Deutschen ursprünglich dem Stamm zugehörig; als es aber im Nominativ fortgefallen war und man "Name", "Frau" (schon ahd. frouwa) sagte, hielt man volksetymologisch dasselbe "n" für einen kasusbildenden Laut. Von ähnlichen Vorgängen in der vorhistorischen Zeit können wir keine Ahnung mehr haben. Ebenso halten wir das "r" in der Mehrzahl "Kälber" für einen Formlaut, der die Mehrzahl bezeichnet; es ist dieses "r" aber nur in der Einzahl fortgefallen. Die Volksetymologie hat dieses r als Zeichen der Mehrzahl analogisch festgehalten und so der wissenschaftlichen Etymologie zu tun gegeben.