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Verwandtschaft

Natürlich ist es uns erfreulich zu erfahren, wo und wie "Verwandte" von uns auf der Welt leben. Es schmeichelt unserer Nationaleitelkeit mit Verwandten darüber zu plaudern. Nicht zu vergessen, dass eben nur die Tatsache der Ähnlichkeit wirklich festgestellt ist, dass aber selbst auf dem engen Gebiet der indoeuropäischen Sprachen der Grad und die Linie der "Verwandtschaft", der eigentliche Stammbaum, niemals erschlossen werden wird. Da hat auf einer gemeinschaftlichen internationalen Gesellschaftsreise ein Engländer entdeckt, dass ein brauner Mann aus Indien ein Sprachverwandter von ihm sei. Der Inder ist also auch mit den französischen und deutschen Vettern des Engländers sprachverwandt. Großer Jubel und allgemeines Händeschütteln. Nur irgendeine Sprachverwandtschaft steht fest; der Versuch, sich in der Genealogie unter all den Basen und Tanten und Großvätern zurechtzufinden, mißlingt. Man plappert dennoch darüber und langweilt damit die wenigen Reisegenossen, welche noch die Natur beobachten wollen.

Ich weiß wohl, welcher Gewinn die Auffindung des verwandten Sanskrit für die arme europäische Sprachwissenschaft war. Der Vetter aus Indien verfügte über einen reichen Schatz. In der technischen Sprache des Gelehrtenbetriebes ausgedrückt war der Erfolg der, dass wieder eine neue Sprache zur Vergleichung herangezogen werden konnte, dass das Material sich vermehrte, dass endlich der Masse wegen eine Spezialwissenschaft sich abtrennen konnte. Es gab auf den deutschen Universitäten einen Lehrstuhl mehr. Das war der Gewinn für die Welterkenntnis.

Um das ganz einzusehen, überlege man einmal, dass nur die Sprachähnlichkeit an sich offenbar ist, die Abstammung jedoch nicht. Es war nur eine Hypothese, und eine herzlich schlecht begründete Hypothese, dass das Sanskrit die Ursprache unserer europäischen Sprache sei, oder auch nur, dass es — da die Annahme der Ursprache nicht lange vorhielt — eine vorgermanische Sprache sei. Vielleicht wird einmal die neue Hypothese besser als bisher begründet werden, dass die Ursprache unseres Gesamtstammes germanisch gewesen sei und dass man das Sanskrit von diesem Urgermanischen ableiten könne. Warum nicht? Die Hypothese wäre wissenschaftlich so gut zu begründen wie eine andere, und dem Chauvinismus wäre noch mehr geschmeichelt als jetzt.

Nach der jetzt herrschenden Auffassung beruhigen sich unsere Etymologen dann, wenn sie das Wort einer indoeuropäischen Sprache bis auf eine sogenannte Sanskritwurzel zurückgeführt haben. Und niemand scheint zu wissen, dass die Aufstellung der Sanskritwurzeln ein ebenso kindliches Werk der Phantasie war, wie etwa die biblische Schöpfungsgeschichte. Früher führte man die Abstammung bis auf das Griechische zurück, etwa so wie wir nach der Lehre der Theologen alle von Noah herkommen, der als Stammvater der Menschen allein aus dem Kasten kam. Jetzt gehen wir bis auf das Sanskrit zurück, bis auf Adam. Und lustig wäre es, wenn im Hebräischen Adam so viel geheißen hätte wie der Mensch, das heißt der Mensch par excellence, das heißt der erste Mensch. Wir würden dann aus der Bibel erfahren, dass die Menschen vom ersten Menschen abstammen. Ebenso bedeuten die Wurzeln des Sanskrit bestenfalls, dass die Untersuchung nicht weitergeführt werden kann. Weiter nichts.

Auf diesem Standpunkt der Wurzeletymologie steht die Wissenschaft heute noch trotz der zurückhaltenden Äußerungen der Junggrammatiker. Auf diesem Standpunkt stand die Naturgeschichte von Aristoteles bis zu Darwin. Da nahm man die Arten, also gewissermaßen die Wurzeln aller lebendigen Tier- und Pflanzenindividuen, einfach als gegeben an; und wer die Entstehung der Arten hätte erklären wollen, wäre für einen Ketzer angesehen worden. Es fiel aber fast keinem Menschen ein, nach der Entstehung der Arten zu fragen, fast ebenso wie man heute nicht nach der Herkunft der Sanskritwurzeln fragt.