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Zeitlicher Horizont

Man sieht sofort, dass die Verschiedenheit des Standpunkts von dem Zeitraum abhängt, auf welchen man die Beobachtung der Sprachgeschichte ausdehnen will. Sah man für die Existenz der Welt nur auf die paar Jahrtausende der Bibel zurück, so erschien eine Erklärung der Arten durch allmähliche Umformung ganz aussichtslos. Denn wenn sich eine bestimmte Tierform binnen zweitausend Jahren nicht verändert, so war auch ihre Entstehung in den vorangegangenen drei Jahrtausenden nicht zu erklären. Seit Darwin oder vielmehr seit den geologischen Forschungen von Lyell stehen dem Geschichtsschreiber der Natur ungemessene Zeiträume zur Verfügung. Er will durch minimale Veränderungen alle Verschiedenheiten erklären; nur den Anfang der Organismen nicht, vielleicht weil die Frage nach dem Anfang falsch gestellt ist.

Auf diesem vordarwinischen Standpunkt steht also trotz der Ideen von Schleicher und der sicherlich darwinistischen Weltanschauung der meisten Sprachforscher die Tätigkeit der Etymologen noch immer. Dadurch, dass infolge der größeren Flüssigkeit des Sprachlauts die Worte sich auch in den paar tausend der Beobachtung zugänglichen Jahren merklich verändert haben, dass Änderungen in der Stellung der Sprachorgane, so winzig, dass die entsprechenden Änderungen im Skelett des Tieres kaum bemerkt würden, in den Schriftzeichen festgehalten worden sind, dadurch ist es möglich geworden, jene Unzahl von Tatsachen zu sammeln, welche Gegenstand der heutigen Etymologie sind. Diese Sammlung ist nicht nur für die Sammler selbst eine Beschäftigung von höchstem Reiz, sondern wie gesagt auch ein Vergnügen für jeden Laien. Ein Blick auf die Zeitdauer, in welcher die menschliche Sprache sich entwickelt hat, wird uns zeigen, wie nichtig die Ergebnisse für die Frage nach dem Ursprung der Sprache sein müssen.

Halten wir uns die Ziffern klar vor Augen. Die Veränderungen, welche unsere eigene Sprache von den ältesten germanischen Denkmälern bis heute erlebt hat, umfassen, immer von Vater zu Sohn gerechnet, eine Reihe von höchstens 50 Geschlechtern; und man muß schon recht großmütig sein, um zu behaupten, dass die Weiterführung der Etymologie, bis zurück auf das Griechische und auf das Sanskrit, weitere 50 Geschlechter umfaßt. Nehmen wir aber als Tatsache an, dass wir wirklich die Sprachgeschichte der letzten 100 Generationen überblicken können. Halten wir dagegen die Zeit, in welcher Menschen auf der Erde gelebt haben, in welcher also die Sprache sich entwickelt hat, in welcher also auch ohne Frage die Vorgeschichte der sogenannten Sanskritwurzeln liegt, so werden wir wohl ohne jede Phantastik zu einer Reihe von z. B. einer Million Generationen kommen. Wir wissen also von der Geschichte der Sprache nicht viel mehr als von der Geschichte der Menschheit im allgemeinen. Wir kennen das letzte Zehntausendstel der Geschichte; und wenn bei dieser Zahl um die Hälfte geirrt sein sollte, so kennen wir ein ganzes Fünftausendstel. Wir kennen so viel als die Wurzellänge eines Baumes vom Wege zum Mittelpunkte der Erde. Wir müßten eigentlich die gesamte Weltgeschichte, die wir übersehen, die Geschichte der Gegenwart nennen, die wir dann wie zum Spotte in das Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit einteilen können. Auch unsere paar prähistorischen Kenntnisse, soweit sie nicht allzu sehr auf Hypothesen beruhen, gehören noch zu dieser Gegenwart. Und da fährt die Etymologie fort, gewisse Sanskritformen, die selbst wieder Abstraktionen sind, als Wurzeln der Sprache zu bezeichnen.

Einige der sichersten Ergebnisse der Etymologie werden uns, wenn wir unseren Standpunkt festhalten, Beispiele dafür geben, wie eng der zeitliche Horizont dieser Disziplin ist.

Vor allem müssen wir uns davor hüten, ihr Hauptergebnis, weil es mit Hilfe von positiven Worten sich in einen respektabeln Satz einkleiden läßt, auch für eine positive Leistung zu halten. Dieses Hauptergebnis würde für unseren Sprachstamm ungefähr so lauten: jedes unserer Worte hat nicht bloß eine Wurzel, sondern es ist eine durch Umformung veränderte Wurzel; jedes Wort tritt in der Sprache als geformtes Wort auf, so dass es zugleich einen Begriff und eine Beziehung zu unseren übrigen Begriffen ausdrückt; und zwar ist das Formelement eines jeden Worts, sei es auch nur eine Silbe, ein Laut oder gar nur eine Lautveränderung wie z. B. der Umlaut, gewöhnlich der Rest oder die Wirkung eines anderen Wortes. Die Etymologie lehrt einerseits die Geschichte des Wortstammes, anderseits die Geschichte der Wortzusammensetzungen, die zu Wortformen verblaßt sind.

Dieses letzte Ergebnis sieht sicherlich nach etwas Rechtem aus. Aber es ist erstaunlich und bezeichnend für den Schneckengang der wissenschaftlichen Errungenschaften, dass diese Einsicht erst durch eine Unfülle von einzelnen Beobachtungen erreicht wurde. Diese armselige Langsamkeit, diese Abhängigkeit von zufälligen Beobachtungen wird gelehrterweise auch die Herrschaft der Induktion genannt. Die einfachsten Negationen des Unsinns, also die einfachsten Wahrheiten, die noch nichts Positives geben, müssen immer induktiv erkannt werden. Die Negation des Unsinns, dass eine Bewegung ohne jeden Grund sich ändern könne, ist unter dem Namen des Trägheitsgesetzes der Ruhm Galileis geworden. Die Negation des Unsinns, dass Kraft oder Stoff aus nichts entstehen könne, ist unter dem Namen der Erhaltung der Energie der Ruhm des 19. Jahrhunderts. Und so scheint mir auch das große Ergebnis der Etymologie, dass die Bedeutungen unserer Flexionssilben nicht aus bedeutungslosen Lauten herkommen konnten, nur die Negation eines Unsinns zu sein. Als diese Flexionssilben sich bildeten oder an die Wortstämme angefügt wurden, hatten sie entweder eine Bedeutung oder sie hatten keine. Hatten sie keine, so wären unsere Sprachen aus einem alten Volapük entstanden, was doch nur ein auf volapükisch redender und denkender Mensch annehmen kann. Hatten aber diese Silben und Laute schon vor der Anfügung einen Sinn, so mußten sie eben Worte sein. Nicht solche Banalitäten kann die Etymologie lehren, sondern höchstens die Geschichte dieser Suffixe. Nicht einmal das beste Ergebnis der Etymologie verdient also den Namen eines Gesetzes, so verschwenderisch auch in den verschiedenen Wissenschaften jede Gruppe ähnlicher Beobachtungen ein Gesetz genannt zu werden pflegt.