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"stillvoll"

Dem entspricht es auch, wenn die Tatsachen der Sprachwissenschaft, insbesondere die Tatsachen der Etymologie untauglich sind, irgendein künftiges Sprachereignis mit Sicherheit vorauszusagen. In der Astronomie, in der Mechanik, in der Chemie usw. führen die beobachteten Gesetze dazu, ein künftiges Ereignis mit immer größerer Sicherheit vorauszuwissen. Eine Sonnenfinsternis wird jetzt bis auf den Bruchteil einer Sekunde genau, das Gewicht eines chemischen Produkts bis auf den Bruchteil eines Grammes genau vorausbestimmt. Die Etymologie mit all den Gesetzen, welche von der neuesten Schule sogar noch genauer genommen werden als früher, kann auch nicht die kleinste Wortveränderung für die Zukunft vorhersagen; das allein scheint mir zu beweisen, dass ihre Rückwärtsprophezeiungen mit dem Wesen von Gesetzen nicht viel zu tun haben. Ein hübsches Beispiel bietet mir das neuerdings aufgekommene Wort "stilvoll". Die Schulmeister belehren uns darüber, dass ein anständiger Schriftsteller das Wort überhaupt nicht anwenden dürfe; denn ein solches Ding sei nicht "voll von Stil". Also: in einem Fall, wo die Etymologie für jeden Kommis auf der Hand liegt und wo das Wort bereits lebendig ist, das heißt von der großen Masse der halbgebildeten Städter bereits all gemein und allgemein verständlich gebraucht wird, erklärt die Wissenschaft das Wort für falsch, das heißt für ungebräuchlich. Die Wissenschaft handelt dabei wie der gelehrte Arzt, der seinen Patienten aufgegeben hat und, da er ihn einige Tage später wohl und munter auf der Straße trifft, ausruft: Wissenschaftlich ist er tot. Auch nach meinem Sprachgefühl ist "stilvoll" noch ein ganz abscheuliches Wort; mein Sprachgefühl, das auch ich für das bessere halte, kann mich jedoch nicht abhalten, die Existenz des Wortes anzuerkennen. Ich gebrauche es nicht gern, wie ich Wasserrüben nicht gern esse; aber die Wasserrüben existieren auch gegen meinen Geschmack. Die Sache liegt nämlich so. Selbst in diesem Falle täuschen sich die Etymologen über das Werden der Sprache. Das Adjektiv "voll" und die Endsilbe "voll" sind für dieses Sprachgefühl nicht identisch. Wundervoll heißt nicht "voll von Wunder", ebensowenig wie das englische beautiful so viel heißt wie "voll von Schönheit". Das Wort stilvoll ist wahrscheinlich von Möbelfabrikanten und Aussteuerkäufern nach der Analogie von ehrenvoll, wundervoll usw. gebildet worden. Die ganze Kulturgeschichte spielt in solch ein einzelnes Wort hinein. Es mußten als Ergebnis unzähliger Ereignisse der Kronprinz Friedrich und seine Frau während der langen Regierungszeit des Kaisers Wilhelm die Hebung des Berliner Kunstgewerbes zum Felde ihrer Tätigkeit machen. Es mußte zur selben Zeit im Geschmack der Alexandrmismus unserer Tage zur Herrschaft kommen, der ein ganzes Dutzend verschiedener Stile, benannt nach Völkern, Zeiten und französischen Königen, nebeneinander gelten ließ. Dann richtete sich jeder Nachttisch mit seinem Inhalt nach einem Stil. Ein Möbelmagazin war voll von Stilen. Ein einzelnes Möbelstück mußte demnach einem dieser vielen Stile entsprechen. Die Möbelfabrikanten und ihr Publikum hätten ebensogut "stilig" sagen können. Da aber "voll" inzwischen vielfach zu einer bloßen Endsilbe geworden war, wurde das Wort "stilvoll" erfunden, und so ist es da für solche Dinge. Genau ebenso hätten die Etymologen vor 1000 Jahren — wenn diese Gelehrtenklasse damals schon beachtenswert gewesen wäre — das neue Wort "solch" verbieten können, welches im Begriffe war, sich aus "so" und der Endsilbe "lich" zu bilden, "lich" (englisch like, im heutigen Deutsch noch im Worte Leiche erhalten) bedeutete den Körper, den Leib oder die Gestalt; für das Sprachgefühl, welches in lich (gotisch leiks) noch die volle Bedeutung empfand, war das Wort solich ebenso abscheulich wie uns das Wort stilvoll. Und heute ist dieses Sprachgefühl für "lich" so untergegangen, dass wir in dem Worte "solchergestalt" den Begriff "Gestalt" zweimal haben.