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Wilhelm von Humboldt

Wilhelm von Humboldt war ein reiner Charakter, der den Dank und die Liebe des deutschen Volkes verdient. Als Preußen nach der Schlacht von Jena daran ging, auf geistigem Gebiete wieder zu erobern, was es sonst verloren hatte, da wurde Humboldt zur Mitarbeit berufen. Als Gesandter wie als Unterrichtsminister blieb er seinen Überzeugungen treu. In einer seiner ersten Schriften sagt er: "Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist's, als binde man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagsonne versengt sie." Diese Anschauung von Staat und Geschichte, die er der unmittelbaren Beobachtung der großen französischen Revolution verdankte, macht ihn zum Vorläufer der historischen Schule, macht ihn zu einem der ersten Führer des aufgeklärten Liberalismus, macht ihn zum Gegner des aufgeklärten wie jedes anderen Despotismus. Humboldt war einer der wenigen, welche bei der Ankündigung der preußischen Reaktion, zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse, aus dem Staatsdienst austraten. Als Privatmann schrieb er jetzt seine sprachphilosophischen Abhandlungen, welche in der Geschichte dieser Gedanken eine ganz eigentümliche Stellung einnehmen. Sie stehen ein wenig abseits von der sprachvergleichenden Methode, welche um dieselbe Zeit herrschend wurde. Humboldt, welcher auf weiteren Gebieten früher als andere die Bedeutung der historischen Weltanschauung ahnte, trieb nicht eigentlich historische Sprachforschung. Trotzdem werden seine Schriften häufig epochemachend genannt, und wirklich kann man kaum ein neueres Werk über die Prinzipien der Sprachwissenschaft lesen, ohne die Anregungen und Ahnungen Humboldts wiederzufinden. Dennoch ist vieles Legende, was sich an den Namen Wilhelm von Humboldt knüpft. Benfey (Geschichte der Sprachwissenschaft S. 537) wagt es, von Humboldts berühmter Einleitung zu dem Werke über die Kawisprache zu behaupten, sie sei jedem gebildeten Deutschen bekannt. In Wahrheit wissen die gebildeten Deutschen von Wilhelm von Humboldt nur, dass er der Bruder Alexanders gewesen sei, und dass er einen schwer verständlichen Kommentar zu Goethes Hermann und Dorothea geschrieben habe; die ganz Gebildeten (Fachgelehrte ausgenommen) kennen auch noch den Titel seiner Einleitung "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts"; doch selbst dieser Titel dürfte weder in seiner Bedeutung noch in seiner verräterischen Unklarheit immer richtig verstanden worden sein.

Humboldt hatte gegenüber den alexandrinischen Sprachvergleichern zugleich den Vorteil und den Nachteil, dass er mit seiner ganzen Jugendentwicklung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zugehörte. Es steht in Harmonie mit dem gemäßigten Liberalismus seiner politischen Überzeugungen, wenn er in Übereinstimmung mit seinen besten Zeitgenossen die Sprachen als Organismen auffaßt, die sich selbst Gesetze geben und denen man also nicht künstlich ihre Blüten mit Fäden anheften darf. Dieser Sinn für die Autonomie des Werdens, den er als Staatsmann bei der Begründung der Berliner Universität in der Wirklichkeit durchzusetzen suchte und einmal so hübsch aussprach ("Man beruft eben tüchtige Männer und läßt das Ganze allmählich sich ankandieren"), dieser wahrhaft historische Sinn führt ihn bei der Betrachtung der Sprache zu viel radikaleren Einblicken, zu Sätzen, welche erst fünfzig Jahre später von den freiesten Sprachphilosophen wieder aufgenommen worden sind. Humboldt zuerst hat gelehrt, dass die Sprachen, wenn sie auch Schöpfungen der Nationen sind, doch "Selbstschöpfungen der Individuen bleiben, indem sie sich nur in jedem einzelnen, in ihm aber nur so erzeugen können, dass jeder das Verständnis aller voraussetzt und alle dieser Erwartung genügen". In ihm steckte aber unbewußt und gegen alle bessere Einsicht noch der starre Rationalismus des 18. Jahrhunderts. So genau er in jedem einzelnen Fall sah oder so stark er es fühlte, dass kein fremder Gesetzgeber der Sprache ihre Formen diktiert habe, so verwechselt er dennoch immer wieder die Wertschätzung, die er selbst subjektiv an die Sprachen heranbringt, mit den Angaben eines objektiven Wertmessers.