Zum Hauptinhalt springen

Sprachgeschichte

Da habe ich zunächst zu erwidern, dass ich nicht einsehen kann, was in aller Welt Sprachwissenschaft sein sollte, wenn sie nicht Sprachgeschichte wäre. Die Sprachwissenschaft will die sprachlichen Erscheinungen erklären, das heißt möglichst genau beschreiben. Erkläre einer aber einmal einen Gebrauch anders als durch die Geschichte des Gebrauchs. Diese Art von Erklärung ist die notwendige Ergänzung jeder Beschreibung; wie bei jedem Stücke einer Naturaliensammlung hinzugefügt werden sollte, wo es herkommt.

Der gegenwärtige Gebrauch der Wortformen und Ableitungssilben, die gegenwärtige Bedeutung der Worte und Bildungsformen, die gegenwärtige Syntax, alle Erscheinungen der Sprache sind nur mit Hilfe ihrer Geschichte genau zu beschreiben. Und wenn die Sprachwissenschaft sonach wesentlich Sprachgeschichte sein muß, so kann sie anderseits nicht mehr als das sein, weil all ihr Wissen mit der Erklärung des gegenwärtigen Zustandes erschöpft wäre. Hätte die Sprachwissenschaft wirklich, wie allgemein behauptet wird, Sprachgesetze entdeckt, so wären es eben auch nur Gesetze der Sprachgeschichte, sogenannte historische Gesetze. Die Verwirrung der Begriffe "Geschichte", "Beschreibung" und "Wissenschaft" läßt sich öfter beobachten und verrät eine gewisse Unsicherheit bei den Gelehrten. Heute neigt der gelehrte Sprachgebrauch dazu, unter dem Worte Naturwissenschaft die Gesamtheit aller Naturgeschichte zusammenzufassen, von den Hypothesen über die Weltentstehung, die auf der Astronomie oder der Himmelsbeschreibung beruhen, bis zur Erzählung der durch schriftliche Denkmäler verbürgten Abenteuer der Menschen, welche wirklich allzu unbescheiden Weltgeschichte heißt. Vor wenigen Jahrzehnten noch hieß Naturbeschreibung die Armseligkeit, welche man den kleinsten Schuljungen aus der Naturwissenschaft darbot.