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VI. Wurzeln

Was ist eine Wurzel?

Max Müller hat ganz richtig gelehrt, dass eine Wurzel dasjenige sei, was sich in den Wörtern irgendeiner Sprache nicht auf eine einfachere oder ursprünglichere Form zurückführen lasse. Die weitere Zurückführung der Sprachwurzeln auf einzelne Buchstaben oder Laute gehört sozusagen nicht mehr in die sprachliche Betrachtung der Sprache. So gliedert der Architekt einen Bau in seine vertikalen und horizontalen, in seine tragenden und getragenen Teile; die Werksteine aber, aus welchen Mauern und Säulen, Spitzbogen und Rundbogen bestehen können, gehören auf ein anderes Gebiet. Besteht eine Wurzel nur aus einem einzigen Laut, so ist das ein gleichgültiger Zufall.

Die negative Definition — dass nämlich eine Wurzel das sei, was sich nicht weiter erklären läßt — sollte uns aber im Gebrauche des Wortes vorsichtig machen. Der ungeheure Mißbrauch des Wortes stammt aus der Zeit, wo die Sanskritgrammatiker Einfluß auf unsere Sprachwissenschaft gewannen. Die Inder wendeten das Wort Wurzel (dhâtu, Ernährer) auch auf ihre fünf Elemente des Weltganzen an, als welche bei ihnen Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther galten. Dieser Umstand ist bezeichnend für den unklaren Irrtum, in welchem sich unsere Sprachwissenschaft noch heute befindet, sobald sie etwa von den Wurzeln der Sprache als von etwas Wirklichem, als einem letzten Elemente redet. Max Müller spricht (Vorlesungen II, S. 75) vollendeten Unsinn, wenn er den Wurzeln ahnungsvoll zwar die Realität abspricht, aber nur darum, weil sie die "Ursachen" der Sprache wären. Er nimmt die geahnte Wahrheit auch wenige Seiten später wieder zurück: die Wurzeln werden ihm zu historischen Tatsachen, an welche er sich in der Not klammert, um rühmen zu können, wie wir es in der Etymologie so herrlich weit gebracht haben.

Niemand wird den erstaunlichen Fleiß und Scharfsinn leugnen wollen, mit welchem die neuere Sprachwissenschaft die Worte von Sprache zu Sprache verfolgt und in unzähligen Fällen ihren Laut- und Bedeutungswandel historisch belegt hat. Es sind aber doch nur Brücken, welche ins Leere führen. Am Ende der historischen Betrachtung steht die prähistorische Zeit; und es ist nicht so banal, wie es klingt, wenn ich nun sage, dass die prähistorische Zeit diejenige ist, von der wir gar nichts wissen. Auf dem Gebiete der Sprache insbesondere fängt die Wurzel da an, wo wir gar nichts mehr wissen. Unsere ausgezeichneten etymologischen Werke enden jede historische Zurückführung mit einer der sogenannten Wurzeln der Sanskritgrammatiker. Diese Wurzeltafeln werden auf Treu und Glauben angenommen, wie von den Juden die Tafeln der Zehngebote. In unseren Tagen, wo man selbst die Zahl der etwa siebzig chemischen Elemente nicht für das Ende aller Weisheit hält und überall an die Möglichkeit ihrer Reduktion glaubt, sollte man nicht so blindlings einer Gedankenrichtung folgen, welche in Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther die Wurzeln des Seins zu erkennen glaubte und ihnen die Wurzeln der Sprache gleichstellte.

Ich will zugeben, dass die grobsinnliche Vorstellung, als wachse ein Wort in der Fülle seiner Formen aus der Sprachwurzel hervor wie der Baum aus seiner Wurzel, die Gedanken unserer Sprachforscher nicht mehr so beherrscht, wie die Wiederkehr dieses Bildes seit der Zeit des Horaz uns vermuten lassen sollte. Mit vollem Bewußtsein wird kein Gelehrter diesen Fehler mehr begehen. Die Herren würden, wollte man sie zu einer Wahl zwingen, das Bild heutzutage gewiß lieber von dem Keime der Pflanze hernehmen, um so gewisser, wenn sie darüber belehrt würden, wie doch die Wurzel nicht das einzige ernährende Organ der Pflanze ist. Aber auch das Bild vom Keime oder von ursprünglichen Elementen wird schief und falsch, wenn man es nicht auf eine phantastische Urwurzel der Sprache, auf irgendeinen vieldeutigen oder gar alldeutigen Schrei bezieht, sondern auf die paar hundert sauber abgeschälten Silben, welche man als die sogenannten Sanskritwurzeln verehrt. Diese Silben, welche die Grammatiker einer hoch entwickelten Sprachzeit durch Abschälen, Glätten und Ordnen künstlich hergestellt haben, als historische Wurzeln, als letzte Keime der Sprache anzusehen und zu gleicher Zeit etwas über den Ursprung der Sprache zu phantasieren, das ist ebenso unsinnig wie ein Versuch, in einem Atem über die biblische Schöpfungslegende und die Entwicklungstheorie des Darwinismus zu sprechen. Am unbesonnensten hat Max Müller es zustande gebracht, einen solchen Mischmasch für möglich zu halten und in den Sprachen zweier Weltanschauungen zu reden, also doppelzüngig. Gerade in dem Kapitel, in welchem er den Ursprung der Sprache behandelt und nach leichtfertiger Ablehnung der Schallnachahmung, der Wauwau-Theorie, und der interjektionalen oder Pah-Pah-Theorie zu seiner mystischen Lehre gelangt, der Mensch sei ein sprechendes Musikinstrument, gerade in diesem Kapitel (Vorlesungen I, S. 319) verrät er ganz unbefangen seinen Glauben an die Ursprünglichkeit der legendären Sanskritwurzeln. Er sagt da: "Wir gelangen schließlich zu Wurzeln, und jede derselben drückt eine generelle, nicht eine individuelle Idee aus. Jedes Wort enthält, wenn wir es zergliedern, eine prädikative Wurzel in sich, nach welcher der Gegenstand, auf den es bezogen wurde, uns kenntlich wird."