Erhaltung niederer Formen


Man könnte nun aber einwenden, wie es denn komme, dass, wenn hiernach alle organischen Wesen bestrebt sind, höher auf der Stufenleiter emporzusteigen, auf der ganzen Erdoberfläche noch eine Menge der unvollkommensten Wesen vorhanden sind, und warum in jeder großen Klasse einige Formen viel höher als die anderen entwickelt sind? Warum haben diese höher ausgebildeten Formen nicht schon überall die minder vollkommenen ersetzt und vertilgt? LAMARCK, der an eine angeborene und unvermeidliche Neigung zur Vervollkommnung in allen Organismen glaubte, scheint diese Schwierigkeit so stark gefühlt zu haben, dass er sich zur Annahme veranlasst sah, einfache Formen würden fortwährend durch Generatio spontanea neu erzeugt. Indessen hat die Wissenschaft bis jetzt die Richtigkeit dieser Annahme noch nicht bewiesen, was immer auch vielleicht die Zukunft noch enthüllen mag. Nach meiner Theorie dagegen bietet die fortdauernde Existenz niedrig organisierter Tiere keine Schwierigkeit dar; denn die natürliche Zuchtwahl oder das Überleben des Passendsten schließt denn doch nicht notwendig fortschreitende Entwicklung ein; sie benützt nur solche Abänderungen, welche auftreten und für jedes Wesen in seinen verwickelten Lebensbeziehungen vorteilhaft sind. Und nun kann man fragen, welchen Vorteil (soweit wir urteilen können) ein Infusorium, ein Eingeweidewurm, oder selbst ein Regenwurm davon haben könne, hoch organisiert zu sein? Wäre dies kein Vortheil, so würden diese Formen auch durch natürliche Zuchtwahl wenig oder gar nicht vervollkommnet werden und mithin für unendliche Zeiten auf ihrer tiefen Organisationsstufe stehen bleiben. In der Tat lehrt uns die Geologie, dass einige der niedrigsten Formen, wie Infusorien und Rhizopoden, schon seit unermesslichen Zeiten nahezu auf ihrer jetzigen Stufe stehen geblieben sind. Demungeachtet möchte es voreilig sein anzunehmen, dass die meisten der vielen jetzt vorhandenen niedrigen Formen seit dem ersten Erwachen des Lebens keinerlei Vervollkommnung erfahren hätten; denn jeder Naturforscher, der je solche Organismen zergliedert hat, welche jetzt für sehr tief auf der Stufenleiter der Natur stehend gelten, muss oft über deren wunderbare und herrliche Organisation erstaunt gewesen sein.

Nahezu dieselben Bemerkungen lassen sich hinsichtlich der großen Verschiedenheit zwischen den Graden der Organisationshöhe innerhalb einer und derselben großen Gruppe machen; so z.B. hinsichtlich des gleichzeitigen Vorkommens von Säugetieren und Fischen unter den Wirbeltieren oder von Mensch und Ornithorhynchus unter den Säugetieren, von Hai und Amphioxus unter den Fischen, indem dieser letztere Fisch sich in der äußersten Einfachheit seiner Organisation den wirbellosen Tieren nähert. Aber Säugetiere und Fische geraten kaum in Konkurrenz miteinander; das Fortschreiten der ganzen Klasse der Säugetiere oder gewisser Glieder dieser Klasse auf die höchste Stufe der Organisation wird sie nicht dahin führen, die Stelle der Fische einzunehmen. Die Physiologen glauben, das Gehirn müsse mit warmem Blut versorgt werden, um seine höchste Tätigkeit zu entfalten, und dazu ist Luftrespiration notwendig, so dass warmblütige Säugetiere, wenn sie das Wasser bewohnen, den Fischen gegenüber sogar in gewissem Nachteile sind, weil sie des Athmens wegen beständig an die Oberfläche zu kommen haben. Eben so werden in der Klasse der Fische Glieder der Familie der Haie wahrscheinlich nicht geneigt sein, den Amphioxus zu verdrängen; denn dieser hat, wie ich von FRITZ MÜLLER höre, auf dem unfruchtbaren sandigen Ufer von Süd-Brasilien eine anomale Annelide zum einzigen Genossen und Konkurrenten. Die drei untersten Säugetierordnungen, die Beuteltiere, die Zahnlosen und die Nager existieren in Süd-Amerika in einerlei Gegend gleichzeitig mit zahlreichen Affen, und stören wahrscheinlich einander wenig. Obwohl die Organisation im Allgemeinen auf der ganzen Erde fortgeschritten oder im Fortschreiten begriffen sein mag, so wird die Stufenleiter der Vollkommenheit doch immer noch viele Abstufungen darbieten; denn die hohe Organisationsstufe gewisser ganzer Klassen oder einzelner Glieder einer jeden derselben führen in keiner Weise notwendig zum Erlöschen derjenigen Gruppen, mit welchen sie nicht in nahe Konkurrenz treten. In einigen Fällen scheinen, wie wir hernach sehen werden, tief organisierte Formen sich bis auf den heutigen Tag dadurch erhalten zu haben, dass sie eigentümliche oder streng beschränkte Wohnorte haben, wo sie einer weniger heftigen Konkurrenz ausgesetzt gewesen sind und wo ihre geringe Anzahl die Aussicht auf das Auftreten begünstigender Abänderungen geschmälert hat.

Ich glaube demnach, dass das Vorkommen zahlreicher niedrig organisierter Formen über die ganze Erdoberfläche Folge von verschiedenen Ursachen ist. In einigen Fällen mag es an Abänderungen oder individuellen Verschiedenheiten von vorteilhafter Art gefehlt haben, mit deren Hülfe die natürliche Zuchtwahl zu wirken und welche sie zu häufen vermocht hätte. Wahrscheinlich in keinem Falle ist die Zeit ausreichend gewesen, um den höchsten möglichen Grad der Entwicklung zu erreichen. In einigen wenigen Fällen ist wohl auch das eingetreten, was wir einen Rückschritt der Organisation nennen müssen. Aber die Hauptursache liegt in der Tatsache, dass unter sehr einfachen Lebensbedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, möglicherweise sogar von wirklichem Nachteil sein würde, weil sie zarter, empfindlicher und leichter zu stören und zu beschädigen ist. Wenn man auf das erste Erwachen des Lebens zurückblickt, wo alle organischen Wesen, wie wir uns wohl vorstellen können, noch die einfachste Struktur besaßen: wie können da, hat man gefragt, die ersten Fortschritte in der Vervollkommnung oder der Differenzierung der Organe begonnen haben? HERBERT SPENCER würde wahrscheinlich antworten, dass, sobald die einfachen einzelligen Organismen durch Wachstum oder Teilung zu mehrzelligen Gebilden geworden oder auf eine sie tragende Fläche geheftet worden wären, sein Gesetz in Wirksamkeit getreten sei, dass »homologe Einheiten irgend welcher Ordnung in dem Verhältnisse differenziert werden, als ihre Beziehungen zu den auf sie wirkenden Kräften verschieden werden«. Da uns aber keine Tatsachen leiten können, so ist jede Speculation über diesen Punkt beinahe nutzlos. Es wäre jedoch ein Irrtum, anzunehmen, dass kein Kampf ums Dasein und mithin keine natürliche Zuchtwahl eher stattgefunden hätte, als bis erst vielerlei Formen hervorgebracht worden wären. Abänderungen einer einzelnen Art auf einem abgesonderten Standorte mögen vorteilhaft gewesen sein und so entweder die ganze Maße von Individuen umgestaltet oder die Entstehung zweier verschiedenen Formen vermittelt haben. Doch ich muss auf dasjenige zurückkommen, was ich schon am Ende der Einleitung ausgesprochen habe, dass sich Niemand wundern darf, wenn jetzt noch Vieles in Bezug auf den Ursprung der Arten unerklärt bleiben muss, wenn wir unsere gänzliche Unwissenheit über die Wechselbeziehungen der Erdenbewohner während der Jetztzeit und noch mehr während der verflossenen Perioden ihrer Geschichte in Rechnung bringen.


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