Über das Variieren organischer Wesen im Naturzustande; über die natürlichen Mittel der Zuchtwahl; über den Vergleich zwischen domestizierten Rassen und echten Arten


Teil eines Kapitels mit obiger Überschrift aus einem nicht veröffentlichten Werke über die Art (dem ersten Entwurf des vorliegenden, skizziert 1839, ausgeführt 1844); vorgelesen Juni 1858 und mitgeteilt in: Journal of the Prozeedings of the Linnean Society. Zoology, Vol. III, 1869. p. 45.

 

DE CANDOLLE hat einmal in beredter Weise erklärt, die ganze Natur sei im Kriege begriffen, ein Organismus kämpfe mit dem andern oder mit der umgebenden Natur. Wenn man sieht, was für ein zufriedenes Aussehen die Natur darbietet, so möchte man dies zunächst bezweifeln; Überlegung führt indes unvermeidlich zu dem Schlusse, dass es wahr ist. Doch ist dieser Krieg nicht fortwährend anhaltend, sondern tritt in kürzeren Zwischenräumen in geringerem Grade, in gelegentlich und nach längerer Zeit wiederkehrenden Perioden heftiger auf, seine Wirkungen werden daher leicht übersehen. Es ist die Lehre von MALTHUS in den meisten Fällen mit verzehnfachter Kraft anwendbar. Wie es in einem jeden Klima für jeden seiner

Bewohner verschiedene Jahreszeiten von größerem und geringerem Überfluss gibt, so pflanzen sie sich auch sämtlich jährlich fort; und die moralische Zurückhaltung, welche in einem geringen Grade die Zunahme der Menschheit aufhält, geht gänzlich verloren. Selbst die langsam sich vermehrenden Menschen haben schon ihre Zahl in fünfundzwanzig Jahren verdoppelt, und wenn sie ihre Nahrung mit größerer Leichtigkeit vermehren könnten, so würden sie ihre Zahl in einer noch kurzem Zeit verdoppeln. Bei Tieren aber, welche keine künstlichen Mittel, die Nahrung zu vermehren, besitzen, muss die Quantität der Nahrung für jede Spezies im Mittel konstant sein, während alle Organismen sich der Zahl nach in einem geometrischen Verhältnisse zu vermehren neigen, in einer Ungeheuern Majorität der Fälle sogar in einem enormen Verhältnis. Man nehme an, dass an einem bestimmten Orte acht Vogelpaare leben, und dass nur vier Paare davon jährlich (mit Einschluss doppelter Bruten) nur vier Junge aufziehen, und dass diese in demselben Verhältnisse gleichfalls Junge aufziehen, dann werden nach Verlauf von sieben Jahren (ein kurzes Leben für jeden Vogel, aber mit Ausschluss gewaltsamer Todesursachen) 2048 Vögel anstatt der ursprünglichen sechzehn vorhanden sein. Da diese Zunahme völlig unmöglich ist, so müssen wir schließen, entweder dass Vögel auch nicht annähernd die

Hälfte ihrer Jungen aufziehen oder dass die mittlere Lebensdauer eines Vogels, in Folge von Unglücksfällen, auch nicht annähernd sieben Jahre beträgt. Wahrscheinlich wirken beide Hemmnisse zusammen. Dieselbe Art von Berechnung auf alle Pflanzen und Tiere angewandt, ergibt mehr oder weniger auffallende Resultate, aber in sehr wenig Fällen auffallendere als beim Menschen.

Es sind viele tatsächliche Beispiele dieser Tendenz zu einer rapiden Vermehrung gegeben worden; unter diesen findet sich die außerordentliche Anzahl gewisser Tiere während gewisser Jahre. Als z.B. während der Jahre 1826 bis 1828 in La Plata in Folge einer Dürre einige Millionen Rinder umkamen, wimmelte faktisch das ganze Land von Mäusen. Ich glaube nun, es lässt sich nicht bezweifeln, dass während der Brut-Zeit sämtliche Mäuse (mit Ausnahme einiger weniger im Überschuss vorhandener Männchen oder Weibchen) sich gewöhnlich paaren; diese erstaunliche Zunahme während dreier Jahre muss daher dem Umstande zugeschrieben werden, dass eine größere Zahl als gewöhnlich das erste Jahr überlebt und sich dann fortgepflanzt hat, und so fort bis zum dritten Jahr, wo dann ihre Zahl durch den Wiedereintritt nassen Wetters in ihre gewöhnlichen Grenzen zurückgebracht wurde. Wo der Mensch Pflanzen und Tiere in ein neues und günstiges Land eingeführt hat, da ist häufig, wie viele Schilderungen es ergeben, in überraschend wenig Jahren das ganze Land von ihnen bevölkert worden. Diese Zunahme wird natürlich aufhören, sobald das Land vollständig bevölkert ist; und doch haben wir allen Grund zur Annahme, dass nach dem, was wir von wilden Tieren wissen, sie sich sämtlich im Frühjahr paaren werden. In der Mehrzahl der Fälle ist es äußerst schwierig, sich vorzustellen, in welche Zeit die Hemmnisse fallen, — obschon dieselben ohne Zweifel meist die Samen, Eier und Junge treffen; wenn wir uns aber erinnern, wie unmöglich es selbst beim Menschen (der doch so viel besser gekannt ist als irgend ein anderes Tier) ist, aus wiederholten zufälligen Beobachtungen zu schließen, welches die mittlere Lebensdauer ist, oder den verschiedenen Prozentsatz der Todesfälle und Geburten in verschiedenen Ländern aufzufinden, so darf uns das nicht überraschen, dass wir nicht im Stande sind, aufzufinden, wann bei jedem Tier und bei jeder Pflanze die Hemmnisse eintreten. Man muss sich beständig daran erinnern, dass in den meisten Fällen die Hemmnisse in einem geringen, regelmäßigen Grade jährlich, und in äußerst starkem Grade, im Verhältnis zur Konstitution des in Frage stehenden Wesens, während ungewöhnlich warmer, kalter, trockener oder nasser Jahre wiederkehren. Man vermindere irgend ein Hemmnis im allergeringsten Grade und die

geometrischen Zunahmeverhältnisse von jedem Organismus werden beinahe augenblicklich die Durchschnittszahl der begünstigten Spezies vergrößeren. Die Natur kann mit einer Fläche verglichen werden, auf welcher zehntausend scharfe, sich einander berührende Keile liegen, welche durch beständige Schläge nach innen getrieben werden. Um sich diese Ansicht vollständig zu vergegenwärtigen, ist viel Nachdenken erforderlich. MALTHUS ›über den Menschen‹ sollte studiert, und alle solche Fälle wie von den Mäusen in La Plata, von den Rindern und Pferden bei ihrer ersten Verwilderung in Süd-Amerika, von den Vögeln nach der oben angestellten Berechnung u.s.w. sollten eingehend betrachtet werden. Man überlege sich nur das enorme Vervielfältigungsvermögen, was allen Tieren inhärent und bei allen jährlich in Tätigkeit ist; man bedenke die zahllosen Samen, welche durch hundert sinnreiche Einrichtungen Jahr auf Jahr über die ganze Oberfläche des Landes verstreut werden; und doch haben wir allen Grund zu vermuten, dass der durchschnittliche Prozentsatz aller der Bewohner einer Gegend für gewöhnlich konstant bleibt. Man erinnere sich endlich noch daran, dass diese mittlere Zahl von Individuen (solange die äußeren Lebensbedingungen dieselben bleiben) in jedem Lande durch immer wiederkehrende Kämpfe mit anderen Arten oder mit der umgebenden Natur erhalten wird (wie z.B. an den Grenzen der arktischen Regionen, wo die Kälte die Verbreitung des Lebens hemmt), und dass für gewöhnlich jedes Individuum jeder Spezies seinen Platz behauptet, entweder durch sein eigenes Kämpfen und die Fähigkeit, auf irgend einer Periode seines Lebens vom Eie an aufwärts sich Nahrung zu verschaffen, oder durch das Kämpfen seiner Eltern (bei kurzlebigen Organismen, wo ein größeres Hemmnis erst nach längeren Intervallen wiederkehrt) mit anderen Individuen derselben oder verschiedener Spezies.

Wir wollen aber nun annehmen, dass die äußeren Bedingungen in einem Lande sich ändern. Tritt dies nur in geringem Grade ein, so werden in den meisten Fällen die relativen Mengen der Bewohner unbedeutend verändert werden; wenn wir aber annehmen, dass die Zahl der Bewohner klein ist, wie auf einer Insel, und dass der freie Eintritt von anderen Ländern her beschränkt ist, ferner, dass die Veränderung der Bedingungen beständig und stetig fortschreite (wobei neue Wohnstätten gebildet werden): — in einem solchen Falle müssen die ursprünglichen Bewohner aufhören, so vollkommen den veränderten Bedingungen angepasst zu sein, wie sie es vorher waren. In einem früheren Teile dieses Werkes ist gezeigt worden, dass derartige Veränderungen der äußeren Bedingungen, weil sie auf das Reproduktionssystem wirken, wahrscheinlich das bewirken werden, dass die Organisation derjenigen Wesen, welche am meisten affiziert wurden (wie im Zustande der Domestikation), plastisch wird. Kann es nun bei dem Kampfe, welchen jedes Individuum zum Erlangen seiner Subsistenz zu führen hat, bezweifelt werden, dass jede kleinste Abänderung im Bau, in der Lebensweise oder in den Instinkten, welche dieses Individuum besser den neuen Verhältnissen anpassen wird, Einfluss auf seine Lebenskraft und Gesundheit haben wird? Im Kampfe wird es bessere Aussicht haben, leben zu bleiben, und diejenigen von seinen Nachkommen, welche die Abänderung, mag sie auch noch so unbedeutend sein, erben, werden gleichfalls eine bessere Aussicht haben. Jedes Jahr werden mehr Individuen geboren, als leben bleiben können; das geringste Körnchen in der Wage muss mit der Zeit entscheiden, welche Individuen dem Tode verfallen und welche überleben sollen. Wir wollen nun einerseits diese Arbeit der Zuchtwahl, andererseits das Absterben für ein tausend Generationen fortgehen lassen, wer möchte da wohl zu behaupten wagen, dass dies keine Wirkung hervorbringen wird, wenn wir uns daran erinnern, was in wenigen Jahren BAKEWELL beim Rinde, WESTERN beim Schafe durch das hiermit identische Prinzip der Auslese zur Nachzucht erreicht hat?

Wir wollen ein Beispiel fingieren von Veränderungen, welche auf einer Insel im Fortschreiten begriffen sind: — wir wollen annehmen, die Organisation eines hundeartigen Tieres, welches hauptsächlich auf Kaninchen, zuweilen aber auch auf Hasen jagt, werde in geringem Grade plastisch; wir nehmen ferner an, dass diese selben Veränderungen es bewirken, dass die Zahl der Kaninchen sehr langsam ab-, die der Hasen dagegen zunimmt. Das Resultat hiervon wird das sein, dass der Fuchs oder Hund dazu getrieben wird, zu versuchen, mehr Hasen zu fangen: da indessen seine Organisation in geringem Grade plastisch ist, so werden diejenigen Individuen, welche die leichtesten Formen, die längsten Beine und das schärfste Gesicht haben, — der Unterschied mag noch so gering sein —, in geringem Maße begünstigt sein und dazu neigen, länger zu leben und während der Zeit des Jahres leben zu bleiben, in welcher die Nahrung am knappsten war; sie werden auch mehr Junge aufziehen, welchen die Tendenz innewohnt, jene unbedeutenden Eigentümlichkeiten zu erben. Die weniger flüchtigen Individuen werden ganz sicher untergehen. Ich finde ebenso wenig Grund, daran zu zweifeln, dass diese Ursachen in tausend Generationen eine ausgesprochene Wirkung hervorbringen und die Form des Fuchses oder Hundes dem Fangen von Hasen anstatt von Kaninchen anpassen werden, wie daran, dass Windhunde durch Auswahl und sorgfältige Nachzucht veredelt werden können. Dasselbe würde auch für Pflanzen unter ähnlichen Umständen gelten. Wenn die Anzahl der Individuen einer Spezies mit befiederten Samen durch ein größeres Vermögen der Verbreitung innerhalb ihres eigenen Gebiets vermehrt werden könnte (vorausgesetzt, dass die Hemmnisse der Vermehrung hauptsächlich die Samen betreffen), so würden diejenigen Samen, welche mit etwas, wenn auch noch so unbedeutend mehr Fiederung versehen wären, mit der Zeit am meisten verbreitet werden; es würde daher eine größere Zahl so gebildeter Samen keimen und würden Pflanzen hervorzubringen neigen, welche die um ein Geringes besser angepasste Fiederkrone ihrer Samen erben. *)

Außer diesen natürlichen Mitteln der Auslese, durch welche diejenigen Individuen entweder im Ei, oder im Larven- oder im reifen Zustande erhalten werden, welche an den Platz, welchen sie im Naturhaushalt zu füllen haben, am besten angepasst sind, ist noch bei den meisten eingeschlechtlichen Tieren eine zweite Tätigkeit wirksam, welche dasselbe Resultat hervorzubringen strebt, nämlich der Kampf der Männchen um die Weibchen. Dieses Ringen nach dem Sieg wird im Allgemeinen durch das Gesetz eines wirklichen Kampfes entschieden, aber, was die Vögel betrifft, allem Anschein nach durch den Zauber ihres Gesangs, durch ihre Schönheit oder durch ihr Vermögen, den Hof zu machen, wie es bei dem tanzenden Klippenhuhn von Guiana der Fall ist. Die lebenskräftigsten und gesündesten Männchen, die damit auch die am vollkommensten angepassten sind, tragen allgemein in ihren Kämpfen den Sieg davon. Diese Art von Auswahl ist indessen weniger rigoros als die andere; sie erfordert nicht den Tod des weniger Erfolgreichen, gibt ihm aber weniger Nachkommen. Überdies fällt der Kampf in eine Zeit des Jahres, wo Nahrung meist sehr reichlich vorhanden ist; vielleicht dürfte auch die hervorgebrachte Wirkung hauptsächlich in einer Modifikation der sekundären Sexualcharaktere bestehen, welche weder in einer Beziehung zur Erlangung von Nahrung, noch zur Verteidigung gegen Feinde stehen, sondern nur auf das Kämpfen oder Rivalisieren mit anderen Männchen Bezug haben. Die Resultate dieses Kämpfens unter den Männchen lassen sich in manchen Beziehungen mit dem vergleichen, was diejenigen Landwirte hervorrufen, welche weniger Aufmerksamkeit auf die sorgfältige Auswahl aller ihrer jungen Tiere und mehr auf die gelegentliche Benutzung eines ausgesuchten Männchens wenden.

 

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*) Ich kann hierin keine grössere Schwierigkeit finden, als darin, dass der Pflanzer seine Varietäten der Baumwollenstaude veredelt. - C. D. 1858.


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