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Die Tyrannen des Geistes

261.

Die Tyrannen des Geistes. — Nur wohin der Strahl des mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus’: ist es nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die Düsterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden dies Licht in ihrer Erkenntnis, in dem, was Jeder von ihnen seine „Wahrheit“ nannte. Damals aber hatte die Erkenntnis noch einen größeren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunkt alles Seins zu kommen und von dort aus das Rätsel der Welt zu lösen. Diese Philosophen hatten — einen handfesten Glauben an sich und ihre „Wahrheit“ und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewalttätiger Tyrann. Vielleicht war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie größer in der Welt, aber auch nie die Härte, der Übermut, das Tyrannische und Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein konnte. Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er tat es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber sein ist eine sublimiertere Form des Tyrannentums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gründete eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der höchste philosophische Gesetzgeber und Staatengründer zu werden; er scheint schrecklich an der Nichterfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. Je mehr das griechische Philosophentum an Macht verlor, um so mehr litt es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht; als erst die verschiedenen Sekten ihre Wahrheiten auf den Straßen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wütete jetzt als Gift in ihrem Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig Freude an ihrer eigenen Erkenntnis in ihnen übrig geblieben. — Überhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht plötzlich ab. Fast von allen großen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen — und dann ist es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Geschichtlich denken heißt jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre: „möglichst wenig in möglichst langer Zeit!“ Ach, die griechische Geschichte läuft so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maßlos gelebt worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen natürlichen Verlauf genommen habe, der so an ihr gerühmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier allmählich zu sein, wie es die Schildkröte im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natürliche Entwicklung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmäßige, aber freilich allzu schleunige Entwicklung der philosophischen Wissenschaft zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in einer Bildner-Werkstätte solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber doch noch mehr und Höheres zu verheißen, als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem Verheißen und Ankündigen. Und doch gibt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus’, einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des philosophischen Lebens. Selbst von den älteren Typen sind die meisten schlecht überliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis Demokrit außerordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine Lücke, ein Bruch in der Entwicklung; irgend ein großes Unglück muss geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener großen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein Geheimnis der Werkstätte geblieben. — Das, was bei den Griechen sich ereignete — dass jeder große Denker im Glauben daran, Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, übereilten und gefährlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt — diese Art von Ereignissen war damit nicht erschöpft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein begeben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut. Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der höheren Kultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, — aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der Oligarchen des Geistes. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich erkennen und anerkennen, was auch die öffentliche Meinung und die Urteile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige Überlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu binden: wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hilfe der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander nötig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, — aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.