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Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist

352.

Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist. — Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher Anblick — ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den Europäerinnen!) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit entmutigt wäre, — es scheint, wir Europäer können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heißt. Sollte aber die Verkleidung der „moralischen Menschen“, ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe haben? Nicht dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Tier in uns vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als zahme Tiere schön zu sein —). Der Europäer verkleidet sich in die Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Tier geworden ist, das gute Gründe hat, „zahm“ zu sein, weil er beinahe eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches, Linkisches ist.... Nicht die Furchtbarkeit des Raubtiers findet eine moralische Verkleidung nötig, sondern das Herdentier mit seiner tiefen Mittelmäßigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst. Moral putzt den Europäer auf — gestehen wir es ein! — in’s Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in’s „Göttliche“ —