Zum Hauptinhalt springen

Die moralische Skepsis im Christentum

122.

Die moralische Skepsis im Christentum. — Auch das Christentum hat einen großen Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine „Tugenden“: es ließ für immer jene großen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Altertum nicht arm war, jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Seneca’s und Epiktet’s, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Überlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Überblicke, es ist uns dabei zu Mute, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher das selbe Gefühl der feinen Überlegenheit und Einsicht haben: — wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus: — retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntnis!