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Von der Unterdrückung der Leidenschaften

47.

Von der Unterdrückung der Leidenschaften. — Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den „Gemeinen“, den gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Überlassendes, — also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung: — wie dies zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwig’s des Vierzehnten und Alles, was von ihm abhängig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmutiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle, — ein Zeitalter, das mit der Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein: sodass selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Vielleicht gibt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegenstück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Konvention der Leidenschaftlichkeit verlangt, — nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie damit zuletzt erreichen, und unsere Nachkommen werden eine echte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.