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Keine neuen Ketten fühlen

10.

Keine neuen Ketten fühlen. — So lange wir nicht fühlen, dass wir irgend wovon abhängen, halten wir uns für unabhängig: ein Fehlschluss, welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, dass er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, dass er in der Unabhängigkeit für gewöhnlich lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren werde. — Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: dass er immer in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen Ketten leidet er noch: — „Freiheit des Willens“ heißt eigentlich nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.