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Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen

98.

Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ungläubigen. — Es gibt kein Buch, welches das, was jedem Menschen gelegentlich wohltut, — schwärmerische, opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen seiner „Wahrheit“ — so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, alles als gefunden, nichts als kommend und ungewiss hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier laufende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftige Gestirn drehen müsse. — Muss also nicht aus demselben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurteilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältnis zu dem, was die Religiösen von ihrem „Wissen“, von ihrem „heiligen“ Geiste verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft „arm im Geiste“? Kann irgend eine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich hinausziehen als die Wissenschaft? — — So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen wir reden, wenn wir uns vor den Gläubigen zu verteidigen haben; denn es ist kaum möglich, eine Verteidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muss die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der Kapuze der Entsagung! der Miene der Demut! Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lust der Erkenntnis, an den Nutzen des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntnis hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden, Freude solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine mäßige Unsterblichkeit der Person ist der persönliche Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgend einem Masse unwissenschaftliche Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in allem genommen und rund glatt und voll ausgesprochen:für ein rein erkennendes Wesen wäre die Erkenntnis gleichgültig. — Von den Frommen und Gläubigen untterscheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins; wir sind mit wenigerem zufrieden. Aber werden jene uns zurufen — so seid auch zufrieden und gebt euch auch als zufrieden! — worauf wir leicht antworten dürften: „In der Tat, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten. Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Worte, eure Handlungen sollte die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christentums ihre Wurzel in eurem Unchristentum; mit eurer Verteidigung schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem eurem Ungenügen am Christentum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet, so klingt: “wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht misslungen sein?"