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Für wen die Wahrheit da ist

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Für wen die Wahrheit da ist. — Bis jetzt sind die Irrtümer die trostreichen Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten die selbe Wirkung und wartet ein Wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade dies — zu trösten — nicht zu leisten vermöchten? — Wäre dies denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, dass sie gerade ihnen nützlich sein müssten? Es ist doch kein Beweis gegen die Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, dass sie zur Genesung kranker Menschen Nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, dass man ohne Weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntnis Nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe gar keine anderen Dinge geben. — Vielleicht folgt aus alledem der Satz, dass die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur im Stande sein werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellekt und dessen Freiheit denken, — sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, dass diese Anderen so wenig ächte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist dies das Urteil der Kranken über die Spiele der Gesunden. — Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesamt krank wurden, war dies ein Grund zum Untergang solcher Götter.