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Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit

103.

Es gibt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. — „Die Sittlichkeit leugnen“ — das kann einmal heißen: leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, — es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heißen: leugnen, dass die sittlichen Urteile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise Irrtümer, als Grund alles sittlichen Urteilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Dies ist mein Gesichtspunkt: doch möchte ich am wenigsten verkennen, dass in sehr vielen Fällen ein feines Misstrauen nach Art des ersten Gesichtspunktes, also im Geiste des La Rochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. — Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heißt, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. — Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit gibt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht — vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin —, dass viele Handlungen, welche unsittlich heißen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heißen, zu tun und zu fördern sind, — aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, — um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen.