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Die Frage

Die Aufgabe, sich selbst zu verstehen, hat der menschliche Geist sich zuerst im Stande seiner Unschuld gestellt, wie überhaupt die Kinder es sind, die die großen Fragen stellen; in reiferen Jahren fragen die Schüler und die Völker nicht mehr: Wer sind wir? Woher kommen wir?

So kann man die alte Frageschule der Menschheit, die Philosophie recht wohl auffassen als eine Schule, in welcher immer nur eine und dieselbe Aufgabe bearbeitet wird, in welcher diese eine Aufgabe nie gelöst werden kann, weil die Arbeit länger dauert als eine Generation von Lehrern oder Schülern. Die Menschheit sendet nach jeden Wehen neue Schüler hinein, und für jeden neuen Schüler muß die Arbeit neu beginnen. Der Tod löst die Lehrer ab, und jeder Lehrer muß neu beginnen. Ewig aber steht auf der schwarzen Tafel die Frage, an deren Beantwortung die Geschlechter sich abmühen. Jedes vorangehende Geschlecht glaubt dem folgenden vorzuarbeiten, und jedes folgende muß von vorne beginnen. Denn das Fragezeichen auf der schwarzen Tafel ist selbst nicht unveränderlich, es ist ja ein Zeichen, es ist Sprache. Und vielleicht ist, was wir Philosophie nennen, eben nur der fragende Blick der Menschheit, die Frage an sich, eine Frage ohne Inhalt.

Wie man den Gang der Kulturgeschichte mit einer Schneckenlinie verglichen hat — weil er nämlich stets im Kreise um den Berg herum zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, aber jedesmal etwas höher eintrifft als der vorige Rundgang — so könnte man die Entwicklung der Sprache oder die Philosophie mit einer Schneckenlinie vergleichen, die langsam um den Berg herum aufwärts führt. Nur daß ein Gipfel nicht erreicht werden kann, weil der Berg nicht fest ist, weil er sich bewegt. Wir lieben es, zu sagen, er bewege sich nach oben, er wachse.

Der Wanderer aber, der dies erkannt hat, wenn und weil er müde geworden ist, wischt sich die bleiche Stirn und stirbt. Marterkreuze bezeichnen den Weg. Wer an vielen Marterkreuzen vorübergekommen ist, der erfährt das Geheimnis zu spät.

Philosophie als ein Überblick, als ein überlegenes und vergleichendes Zusammenfassen leitender Gedanken der Einzelwissenschaften, ist möglich von Tag zu Tag, von dem einen überragenden Kopfe zu dem anderen; Philosophie in diesem bescheidenen Sinne ist möglich, für den Philosophen selbst wenigstens, in welchem die Menschheit sich beschaulich ausruht, so zwar, daß er auf dem Marsche der Menschheit zurückbleiben muß, um auf den zurückgelegten Weg oder auf die Aussicht von der eben erreichten Stelle achten zu können.