Zum Hauptinhalt springen

XI. Ichgefühl

"Selbstbewußtsein"

Der Begriff Selbstbewußtsein wird auch von unseren wissenschaftlicheren Psychologen geführt, so wie die Landapotheken Schlangenfett u. dgl. weiterführen. Weil die Bauern es verlangen. Die Psychologen scheinen aber bei dem Gebrauch des Wortes ein schlechtes Gewissen zu haben (womit ich eben selbst Schlangenfett feilgeboten habe, da doch Gewissen und Bewußtsein für den Nichtethiker ein und dasselbe ist).

Wundt (Phys. PS. II, 258) will das Erwachen des Bewußtseins im neugeborenen Kinde daran erkennen, daß sich bald ein Symptom des Bewußtseins einstelle, daß das Kind sich an gewisse Eindrücke wieder erinnere. Der Begriff Bewußtsein wird da sichtbarlich als Verzierung gebraucht, wie ein Fremdwort von unwissenden Leuten beliebt wird. Ebensogut könnte Wundt folgern: Wenn wir am Menschen die erste Äußerung von Geist wahrnehmen, so können wir sie als Symptome von Esprit betrachten. Und so wie Wundt bei einiger Ehrlichkeit erkennen muß, daß das Gedächtnis dasjenige sei, was wir vom Bewußtsein etwa wissen, so nähert er sich auch der Einsicht, welche Rolle die Aufmerksamkeit, also ein subjektiver Faktor, beim Gedächtnis spiele.

Unser Gedächtnis reicht freilich niemals bis in die ersten Kinderjahre zurück. Unser Selbstbewußtsein umfaßt also nicht unser ganzes Leben, und an seine erste Wohnung im Mutterleibe hat sich noch kein Mensch zurückerinnert. Dies mag zwei Gründe haben. Erstens mag in den ersten Jahren die Hauptschwierigkeit darin bestehen, das Bewußtsein, d. h. das Gedächtnis irgendwo anfangen zu lassen, irgendwo an den Haken eines besonders starken Eindrucks anzuknüpfen. Das Leben ist Natur und kennt fortzeugend keinen Anfang und kein Ende. Das Bewußtsein oder das Gedächtnis ist ein Werkzeug und gelingt erst nach vielen mißlungenen Versuchen. Flechsig hat uns übrigens gelehrt, daß das Gehirn des neugeborenen Kindes nicht fertig auf die Welt gebracht wird; das Kind muß sich seine Markbahnen, die Werkzeugmaschine des Werkzeugs Gedächtnis, erst mühsam aufbauen.

Zweitens aber ist das Bewußtsein, oder Gehirngedächtnis — oder wie man das reflektierende Gedächtnis besonders nennen mag — an seine Zeichen gebunden, an die Worte unserer Sprache, und darum kann der Mensch eine Erinnerung an die Zeit nicht haben, wo er die Worte seines ausgereiften Sprachschatzes entweder noch gar nicht besaß oder papageienhaft nachplapperte oder mit falschen Vorstellungen verband. Ein Kind mag ein Regiment Husaren für seltsame zweiköpfige Kentauren halten. Lernt es Reiter und Pferd begrifflich trennen, so gewinnt das Wort Husar in seinem Bewußtsein oder Gedächtnis erst die Bedeutung für das Leben, und die frühere Vorstellung versinkt unrettbar in die kindliche Traumzeit.

Wundt kennt nun neben dem Bewußtsein ein Selbstbewußtsein und leitet das ganz hübsch davon her, daß bei unseren Vorstellungen (eben durch den wichtigen Faktor der Aufmerksamkeit) unser Wille mitspreche. So nämlich möchte ich es ausdrücken, weil der Wille eben nur die Sprache beeinflußt. Was aber dieses Selbstgefühl, dieser Machtkitzel des Ichs eigentlich sei, das eben wissen wir nicht, außer daß es Gedächtnis sei und an der Sprache hafte.

* * *

Nicht weil sie reich ist, sondern infolge ihrer Armut sagt die Sprache selbst mitunter die Wahrheit über ihr Wesen.

"Selbstbewußtsein" ist hörbar ein übelgebildetes Wort; es müßte ähnlich auch ein "Selbstgehör", ein "Selbstgesicht" geben. Daß aber Bewußtsein wirklich nichts anderes sei als Erinnerung, das scheint deutlich schon in dem Worte zu liegen. Sich einer Sache bewußt sein, heißt auf deutsch nichts anderes, als sie gewußt haben, sie kennen gelernt haben, also sich ihrer erinnern. Wissen ist im Lateinischen darum immer ein Gewußthaben. Im Griechischen ist ich weiß so viel wie ich habe gesehen. Im Armenischen gibt es für wahr ein Wort, das eigentlich mit Augen gesehen bedeutet. Das ist alles in einem weiteren Zusammenhange (S. 294 f.) ausführlich dargelegt worden.

Das Bewußtsein oder der Ichbegriff wird hier allein auf die Tatsache des Gedächtnisses gegründet. Nun könnte es wie ein unlösbarer Widerspruch erscheinen, daß uns das Gedächtnis als die Summe der Gleise oder Erinnerungen in dem bleibenden Organismus unserer Nervenbahnen erscheine, daß dagegen die physiologische Psychologie lehre, der Organismus sei nichts Bleibendes, der Stoffwechsel verbrauche und erzeuge immer neue Moleküle. So scheint ein und dieselbe Wissenschaft erstens zu lehren, daß die Nervenbahnen, also der bleibende Organismus, die Ich vor Stellung erzeuge, zweitens aber, daß der wechselnde Organismus erst durch die bleibende Ichvorstellung einheitlich zusammengehalten werde.