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Aufmerksamkeit und Interesse

Passive Aufmerksamkeit kann, das liegt auf der Hand, nur durch Erregung eines Interesses entstehen; Folterqualen müssen die Aufmerksamkeit aufs höchste erregen, weil der gewöhnliche Mensch kein höheres Interesse kennt als sein Leben. Wir erinnern uns, daß unsere Analyse das Interesse schließlich auf eine Tätigkeit des Gedächtnisses zurückgeführt hat. Wir können diesen Gedanken vorläufig nicht weiter verfolgen; halten wir uns an das Interesse. Ein Mensch oder ein Tier, sagt Ribot (L'attention S. 13), wäre ohne die Fähigkeit, Lust oder Unlust zu empfinden, auch unfähig, aufzumerken; wir können hinzufügen, daß ohne diese Fähigkeit zur Lust und Unlust die organische Welt auch nichts apperzipieren könnte. Nur daß die Annahme eines gefühllosen Lebewesens sinnlos ist; wir wissen ja, daß die Erlernung des Schädlichen und Nützlichen die Gefühle der Lust und Unlust, also das Interesse erzeugt hat, und daß diese Erlernung, welche wir dem Gedächtnisse verdanken, die ganze Entwicklung der Sinnesenergien von der Amöbe bis zum Menschen und im Menschen die Entwicklung derjenigen Anpassung möglich gemacht hat, die wir Welterkenntnis nennen. In jedem einzelnen Menschen ist nun natürlich die Richtung seiner Aufmerksamkeit oder die Gegend seiner Apperzeption oder die Ansatzstelle seines geistigen Wachstums (wenn unsere Auffassung von der Apperzeption richtig ist) von zwei Umständen abhängig: von seinem bisherigen Bewußtseinsinhalt und von dem äußeren Objekt, das dazu an ihn herantritt. Stellen wir einen Bauern, einen Jäger, einen Botaniker und einen Astronomen auf eine Heide, so wird die Aufmerksamkeit eines jeden auf andere Umstände gerichtet werden, und wenn wir von jedem die Tätigkeit des Aufmerkens sehen könnten, so wüßten wir auch alles über seinen bisherigen Bewußtseinsinhalt. Die Tatsache, daß das Interesse beim passiven Aufmerken den Ausschlag gibt, daß demnach die Vorgeschichte des Individuums und seiner Art, anders ausgedrückt, daß das Gedächtnis des Individuums und sein Artgedächtnis auch diejenige Form der Aufmerksamkeit lenkt, die man die passive nennt, ließe sich durch tausend überflüssige Beispiele belegen. Doch in dieser Bemerkung liegt schon die zweite, daß auch bei der passiven Aufmerksamkeit aktive Arbeit geleistet wird. Für die neuere Psychologie sollte das selbstverständlich sein, da diese auch im einfachen Sehen oder Hören Verstandesarbeit, Gehirnarbeit erblickt. Wir können diese Arbeitsleistung aber auch durch das alltäglichste Experiment nachweisen. Lassen wir die Hand auf dem Tische ruhen, so nehmen wir die Tastempfindung nach einigen Minuten gar nicht mehr wahr, wenn wir nicht durch unmerklichen Druck neue Muskelarbeit leisten. Bei der aktiven Aufmerksamkeit freilich ist diese Arbeitsleistung viel intensiver zu beobachten; fixieren wir mit den Augen einen bestimmten Punkt, so sind die Augen nach kurzer Zeit von der geleisteten Arbeit so erschöpft, daß wir überhaupt nichts mehr sehen. Das Gefühl der Anstrengung liegt, stärker oder schwächer, beim aktiven wie beim passiven Aufmerken vor. Nimmt man der inneren Empfindung der Aufmerksamkeit die sie angeblich nur begleitende Empfindung der Arbeitsleistung, so weiß ich nicht, was von dem Seelenvorgang Aufmerksamkeit überhaupt noch übrig bleibt.

Schon bei dieser Betrachtung werden die Grenzen zwischen passiver und aktiver Aufmerksamkeit verwischt. Wird z. B. durch einen Gesichtseindruck das Interesse eines bis dahin unaufmerksamen Spaziergängers erregt, läuft z. B. ein Tier über den Weg, dessen Formen ihm nicht ganz geläufig sind, so wird er sofort seine Augen auf diesen Gesichtseindruck lenken und sie akkommodieren, um in der nächsten Minute wieder zu vergessen, daß das Aufspringen eines Hasen ihn zu dieser komplizierten Arbeit angeregt habe. Aber die Arbeit, mit welcher er das Bildchen des Hasen auf den Fleck des deutlichsten Sehens brachte, dies entsprechend in beiden Augen, und was sonst ein aufmerksames Sehen alles erfordert, ist doch nicht verschieden von der Arbeit des Mikroskopikers, der mit gespanntester aktiver: Aufmerksamkeit unter dem Mikroskop das Sputum eines Lungenkranken untersucht. Wäre Selbstbeobachtung bei der passiven Aufmerksamkeit möglich, so würden die Gefühle der Arbeitsleistung überall ebenso wahrnehmbar sein, wie sie es bei der aktiven Aufmerksamkeit sind: beim, aufmerksamen Sehen eine Anstrengung in der Gegend der Augen, beim aufmerksamen Hören eine fühlbare Anstrengung in der Gegend der Ohren, beim aufmerksamen Denken, d. h. beim aufmerksamen Kombinieren von Vorstellungen oder Begriffen, eine leis fühlbare Anstrengung der Kopfhaut. Erinnern wir uns bei diesem Anstrengungsgefühl, welches vom aufmerksamen Denken verursacht wird, daß Denken bei vielen Menschen inneres Sprechen ist, und umso sicherer Bewegungsgefühle im Sprachapparate auslöst, als das Denken aufmerksamer wird.