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"Denken"

Wenn wir durch Aufmerksamkeit dazu gebracht werden, unsere Lautvorstellungen in die Artikulationsmuskeln zu lokalisieren, so hören wir darum nicht auf, unsere Worte oder Begriffe im Kopf zu lokalisieren, und zwar instinktiv ungefähr gerade da, wo die Leichenuntersuchungen Sprachkranker an der linken Stirnseite ein sogenanntes Sprachzentrum haben vermuten lassen. Damit ist die Lehre, daß Worte Bewegungserinnerungen seien, durchaus nicht beiseite geschoben. Denn auch unsere Gesichtsvorstellungen, unsere Schallbilder entstehen am Ende aller Enden in ihrem angeblichen Gehirnzentrum, ohne daß wir deshalb neben dem Sehen und Hören ein besonderes Denken des Sehens oder Hörens statuieren. Nehmen wir ein "Denken" an, dann fällt das Sprechen als überflüssiger Begriff fort, mit ihm das Sehen, Hören, Schmecken u. s. w. Das Sprechen ist dann nur eine Unterart des Denkens. Nehmen wir ein selbständiges Sehen, Hören, Sprechen u. s. w. an, so erübrigt das Denken.

Alle physiologischen Untersuchungen über Gehirntätigkeit entbehren der wünschenswerten Eindeutigkeit; man streitet darüber, ob die sogenannte Ganglienzelle ein Organ der Empfindung oder der Ernährung sei, ob die Nervenfasern der Rinde sensorisch und motorisch oder nur assoziativ wirken, ob das sogenannte Bewußtsein seinen Sitz im Stirnhirn oder auch anderswo habe, ob die amöboiden Bewegungen der Nervenzellen Erregungserscheinungen sind oder nicht, ob im Gehirn Interferenzerscheinungen vorkommen oder nicht; nie wird, außer bei allgemeinsten Kautelen, mit der Vorstellung ernst gemacht, daß das gesamte Hirn dem psychischen Leben diene. Wir tappen mit den feinsten Messern und Zangen in der Gehirnsubstanz noch brutaler und noch ratloser umher, als wir mit Worten Worte untersuchen. Worte sind wenigstens immer tot oder krank; das Gehirn erst unter den Händen des Vivisektors oder des Anatomen. Halten wir uns an das psychische Leben des gesamten Gehirns, so steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sprechen einfach und groß vor uns, losgelöst von den kleinen, wichtigtuerischen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt der Mode unterworfenen Lokalisationsfragen.

Und damit sind wir bei dem Wichtigsten, was wir aus der Lehre (daß nämlich unsere Sprache nicht aus Schall-, sondern aus Bewegungsempfindungen bestehe) lernen können. Wir haben nun etwas, was die beiden Gegensätze: Denken und Räumliches, Geist und Körper — vereinigt. Wir können den größten Und schrecklichsten Gegensatz, den zwischen der Wirklichkeitswelt und Erkenntniswelt, auf eine Einheit zurückführen, auf eine bekannte Größe, auf ein bekanntes — Wort.

(Der Leser hat kein Recht, über diese skeptische letzte Silbe ärgerlich zu werden. Es soll nur der unter der Folter der Gedankenqual ausgestoßene Seufzer sein: ich weiß, ich kann nichts wissen! Das Kind will den Mutterleib verlassen und kann es nicht, ohne daß die Zange angelegt wird! Doch gräßliche Tragikomödie! Das Kind hält selbst die Zange in der Hand! Kind und Zange, beides ist Sprache! Wer darüber lachen kann, der lache. Es gehört große Weisheit oder gemeine Dummheit zu diesem Lachen.)