Zum Hauptinhalt springen

Gedächtnis und Sprache

Meine Überzeugung ist, daß die Rätsel der Sprache mit Schlüsselworte Gedächtnis zu lösen seien, oder vielmehr daß die Rätsel, welche das Wesen und die Entstehung der Sprache uns aufgibt, zurückzuschieben seien auf das Wesen des menschlichen Gedächtnisses. Ich weiß nicht, ob ich im stände sein werde, diesen Gedanken auf Grundlage der neuen physiologischen Anschauungen weiter zu verfolgen. Ich will darum nur einige leitende Ideen für den Zusammenhang festlegen.

Man hat seit langer Zeit von einem musterhaften Gedächtnisse verschiedene Eigenschaften verlangt; es soll groß oder umfassend sein, d. h. möglichst viele Vorstellungen aufbewahren, es soll leicht sein oder vielmehr schnell, d. h. es soll die Aufbewahrung schnell vollziehen und auch die Benützung des Vorstellungslagers schnell gestatten, es soll fest sein, d. h. die Aufbewahrung für eine lange Zeit oder gar für die Lebensdauer ermöglichen, und es soll endlich treu sein, d. h. die Vorstellungen unverändert und unverfälscht erhalten. Diesem Ideal entspricht kein einziges Gedächtnis. Kein Gedächtnis ist zugleich groß, leicht, fest und treu. Absolute Größe, Leichtigkeit, Festigkeit oder gar Treue gibt es überhaupt nicht.