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Sprachzentrum

Für die physiologische Psychologie aber, insofern sie Bewußtseinsvorgänge im Gehirn zu lokalisieren sucht, müßte der Fall der Laura Bridgman sehr lehrreich sein. Den Erforschern des menschlichen Gehirns scheint kaum ein Ergebnis sicherer zu sein, als die Existenz von Gehirnprovinzen, den sogenannten Zentren, in denen die hörbaren Zeichen sich bei ihrer Entstehung und bei ihrem Gebrauche mit allen zugehörigen Vorstellungen assoziieren oder assoziieren können. So ist wirklich beim normalen Menschen das Gehirn das Denkorgan dort, wo es das innere Sprachorgan ist. Es ist schon oft beobachtet worden, daß der kluge und denkende Hund seine Vorstellungen höchst wahrscheinlich mit Geruchsempfindungen oder vielleicht auch mit Zeichen von oder für Geruchserinnerungen assoziiert.

Julia Brace, eine Taubstummblinde, die zu alt zu Doktor Howe kam, um noch sprechen lernen zu können, hatte ihren Geruch in Stellvertretung so ausgebildet, daß sie aus einem Haufen Handschuhe ein zusammengehörendes Paar und sogar die Handschuhe zweier Schwestern herausfinden konnte.

Laura Bridgman nun, welche sich in ihrem Geistesleben doch auf menschlicher Höhe hielt, konnte denken oder sprechen, assoziierte jedoch alle ihre Erfahrungen durch Tastempfindungen. Sie hatte zuerst betastete Gegenstände mit betasteten Wortzeichen assoziieren gelernt, lernte später eine selbständige Fingersprache, gelangte aber mit alledem über Erinnerungen an Tastempfindungen nicht hinaus; in der Fingersprache sprach sie mit sich selbst, in der Fingersprache träumte sie sogar.

Wenn man nun nicht glauben will, daß das Abstraktum Sprache, das es in der Wirklichkeitswelt nicht gibt, wie eine Gottheit ein besonderes Sprachzentrum des Gehirns beherrsche, wenn man weiter bedenkt, daß alle Untersuchungen des menschlichen Gehirns in dieser Richtung immer nur die Verbindung des Denkens mit den Leitungen der normalen Sprache, den Gehörnerven und den Gesichtsnerven, aufsuchen, wenn man die doch naheliegende Hypothese aufstellt, daß die gleiche Gehirnprovinz bei Laura Bridgman zum Zwecke des Denkens eine Verbindung mit den Tastnerven eingehen mußte, so scheint mir die physiologische Psychologie unserer Tage einen recht fühlbaren Stoß zu erhalten. Sie muß schon um dieses Falles willen umlernen. Sie muß das Abstraktum Sprache den längst verabschiedeten Seelenvermögen nachschicken.