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Wissen ohne Sprache

Das Kreuz besteht in dem Widerspruche, daß all unser Denken nichts anderes ist als Sprechen, und daß doch eine Gehirnarbeit, die wir mit den Mitteln unserer Sprache nicht anders als Denken nennen können, ohne Sprache möglich ist. Wenn ein einjähriges Kind, das noch kein Wort sprechen kann und ganz gewiß nichts von Newton und der Schwerkraft gehört hat, einen Kuchen mit den Händchen festhält, damit er nicht zu Boden falle, so hat dieses Kind aus zahlreichen Beobachtungen schon die Erfahrung gesammelt, daß Körper ohne Unterstützung auf den Boden fallen; so hat es diese Erfahrung generalisiert und hat sein Handeln nach einem Naturgesetze eingerichtet. Es ist eine Leistung seines Gehirns, wenn das Kind den Kuchen festhält. Wodurch unterscheidet sich diese Gehirnleistung von dem Denken, das an die Sprache gebunden ist, das Sprache ist? In dem Mangel der Mitteilbarkeit scheint der wesentliche Unterschied nicht zu bestehen; denn auch das tiefste und letzte Denken ist schwer mitteilbar. Wir helfen uns einstweilen mit der Worterklärung, daß dieses vermeintliche Denken ohne Sprache nur ein Wissen ist; es wird aber manches Bedenken haben, ein Wissen, also eine durch das Gedächtnis geordnete Sammlung von Erfahrungen, uns ohne Denken vorzustellen. Das kommt aber nur daher, daß wir auf unserer Entwicklungsstufe uns das Wissen gern als ein allgemeines, abstraktes Wissen vorstellen, daß wir abgeneigt sind, die sogenannten Instinkte im Handeln der Tiere und die sogenannten Gewohnheiten im Handeln der schlichten Menschen oder die ersten Anpassungen des Kindes ein Wissen zu nennen. Man könnte sagen, das Wissen werde eben erst durch seinen allgemeinen Ausdruck zum Denken, und das sei erst durch die Sprache möglich. Der Sprachgebrauch ist aber in diesen Dingen nicht konsequent, weil die Menge, welche doch den Sprachgebrauch schafft, sich mit solchen Fragen noch niemals beschäftigt hat. Es ließe sich freilich gegen diese Terminologie wiederum einwenden, daß das Wissen des Kindes vom Fallen des Kuchens auch schon eine Allgemeinheit ist. Die Begriffe fließen wie immer ineinander. Rechnen ist Rechnen, ob es ein Bantuneger mit Hilfe seiner zehn Finger oder ein Astronom mit Hilfe algebraischer Zeichen ausführt. Je kühner das Denken sich verallgemeinert, je abstrakter die Zeichen des Denkens werden, desto klarer wird dem Forscher die Identität von Denken und Sprechen. Lavoisier, der Neubegründer der Chemie, sagte einmal, die Algebra, die zu gleicher Zeit eine Sprache und eine analytische Methode ist, sei die einfachste, die genaueste und die zweckdienlichste Art des Ausdrucks. "Die Kunst zu denken ist eigentlich nichts weiter als eine wohlgeordnete Sprache."

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