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Denken und Sprechen

Die Herren, welche die Sprache nur als ein Kleid des Denkens ansehen, und zwar als ein schlecht gearbeitetes, mangelhaft sitzendes Kleid (während Max Müller wieder die Sprache für ein Kleid hält, das dem Denken wunderbar gut sitzt, wie ein Handschuh der Hand, comme un gant), berufen sich darauf, daß eine tadellose Verständigung zwischen zwei Menschen, eine Gedankenübertragung ohne Rest, nicht möglich sei. Diese Tatsache wird uns immer geläufiger werden. Es gibt nur Individualsprachen, und nicht nur zwei Söhne des gleichen Sprachvolkes, sondern selbst leibliche Zwillingssöhne der gleichen Mutter haben in ihrer Sprache Differenzen, die im Gespräch zu kleinen Mißverständnissen führen können und müssen. Wenn nun über diesen Mängehj, welche jeder Individualsprache anhaften und welche ihnen anhaften müssen, weil doch unmöglich die unzähligen verschiedenen Hohlspiegelbilder einer und derselben Welt identisch sein können, — wenn über diesen schlecht sitzenden Gewändern der Sprache ein allgemein gültiges Denken schwebte, dann wäre allerdings ein klaffender Unterschied zwischen dem Denken und dem Sprechen stabiliert und bewiesen. Und die bis zur Stunde landläufige Anschauung von unserer Welterkenntnis müßte notwendig zu der Anerkennung eines solchen Unterschiedes führen. Sieht man in der Wirklichkeitswelt etwas absolut Gegebenes, sieht man in unserem Denken oder unserer Erkenntnis der Wirklichkeitswelt ein noch unvollständiges, aber treues Spiegelbild, dann ist allerdings jede Individualsprache nur ein verzerrtes Spiegelbild, ein Bild, das subjektiv geformte Hohlspiegel hervorgerufen haben. Und so unverscheuchbar spukt das Gespenst von einem absoluten Denken auch in guten Köpfen, daß unbewußt und unklar, aber überall neben der Existenz mangelhafter Individualsprachen, die der Hoheit des Denkens nicht ebenbürtig sein sollen, ein besonderes Abstraktum, "menschliche Sprache" genannt, angenommen wird, welches dann eine Art philosophischer Vollkommenheit besitzen soll, aus dem man sogar eine philosophische Grammatik herauspressen möchte. Wie steht es aber um diese Dinge? Die menschliche Sprache an sich ist — wie gesagt — ein Abstraktum, ein unfaßbarer Schatten wie die alten Seelen vermögen; die menschliche Sprache an sich besitzt überhaupt keine Grammatik, geschweige denn eine philosophische Grammatik. Die einzelnen Volkssprachen, die etwas greifbarere und nützlichere Abstraktionen sind, sind doch nur die Summen aller Individualsprachen der Volksangehörigen, Summen, in denen sich die Mängel der Individualsprachen je nach Umständen verkleinern oder vergrößern, verstärken oder kompensieren. Grammatik einer einzelnen Volkssprache ist möglich, in groben Zügen, für den Gebrauch, tot; was durch die Sprachen von Individuen und kleineren Gruppen unfügsam dazu geraten ist, das und was als Ruine aus alter Zeit stehen geblieben ist, das heißt Ausnahme. Die Sprache eines Einzelmenschen ist nicht ein falsches Bild seines Denkens, sondern ein falsches Bild seiner Außenwelt; er spricht alles aus, was er individuell denkt, nur sein Denken über die Wirklichkeitswelt ist individuell und darum falsch. Sein Denken ist der Schatz seiner ererbten und erworbenen Erfahrungen; weil jeder einzelne die in der Muttersprache scheinbar gleichmäßig angehäuften ererbten Erfahrungen ebenso individuell versteht, wie seine erworbenen Erfahrungen individuell sind, darum versteht kein Mensch den anderen. Nicht an der Sprache liegt es, sondern am Denken. Das Denken ist es, was wie ein schlechtes Kleid schlecht zur Wirklichkeitswelt paßt; die Sprache unterscheidet sich vom Denken so wenig, als das Tuch, woraus der Rock gemacht ist, sich vom Rocke unterscheidet. Wenn ein Rock mir schlecht sitzt, so trägt das Tuch nicht die Schuld.