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Zählen

Der krasseste Fall, in welchem auch die leiseste Änderung des Gedankens nicht ohne Änderung der Sprache möglich ist, scheint mir im einfachen Zählen zu liegen. Zähle ich von der Eins bis zu einer noch so großen Zahl, nehme ich zwischen zwei Einheiten noch so viele minimale Zwischenglieder, das heißt Bruchteile an, die Sprache hat für jeden der unendlich vielen Werte einen ganz bestimmten Ausdruck, die Schrift ein besonderes Zeichen. Dieser Ziffersprache und diesen Zifferzeichen liegt aber ein ganz bestimmtes System zu Grunde. Bevor dieses Dezimalsystem erfunden worden war, oder bevor man es nach Europa eingeführt hatte, war selbst diese allereinfachste Geistestätigkeit des Zählens bei uns nicht über eine gewisse Grenze hinaus möglich. Bei uns weiß jetzt jeder Schulknabe, daß 756318 + 1 = 756319 ist; er zählt eine sechsstellige Zahl einfach weiter, wie er von eins ab zählen gelernt hat. Ich bin gewiß, daß dieses elementare Zählen, das dem Einmaleins noch vorausgeht, manchem griechischen Weisen Schwierigkeiten gemacht hätte. Hier ist das Denken dem Sprechen nur insofern vorausgegangen, als die besseren Köpfe vor Einführung des Dezimalsystems schon davon eine Ahnung hatten, daß die Welt hinter Zehntausend nicht mit Brettern verschlagen sein könne. Wirklich zählen konnten sie aber nicht, auch im Kopfe nicht, solange sie das Zeichensystem, solange sie die Sprache dafür nicht hatten. Man kann das noch heute an den Völkern belegen, die etwa nur bis drei oder nur bis zwanzig zählen können; was über ihre Zahlworte hinausgeht, ist ihnen eine unbestimmte Vielheit. Vielleicht stand Aristoteles hinter Zehntausend da, wo der Patagonier heute hinter der Drei steht.

Die ungleiche Fertigkeit, zu welcher es verschiedene Völker und verschiedene Zeiten in der einfachen Kunst des Zählens brachten, wird uns nun aber in den Stand setzen, einen ganz flüchtigen und unkontrollierbaren, aber doch einen Blick hinter die Kulissen dieser Geistesäußerung zu werfen. Man hat längst bemerkt, daß es Tiere gibt, welche ebenfalls in menschlicher Weise bis drei zählen können. Jedesmal wird dann die Geschichte von der Krähe erzählt, welche ihren Zahlensinn praktisch anzuwenden wisse. Wenn drei Jäger in die Hütte hinein- und nur zwei hinausgegangen sind, dann weiß die Krähe angeblich, daß 3 — 2 = 1 ist, und soll durch keinen Köder zu bewegen sein, sich der Hütte auf Schußweite zu nähern. Mit dieser Geschichte soll jägerlateinisch, also beinahe gelehrt, bewiesen werden, daß die Krähe die Grundlagen des Zählens besitze (wie denn auch wir Menschen den Unterschied zwischen zwei und drei Äpfeln, Nüssen, Zuckerstückchen u. s. w. durch den bloßen Augenschein, also vorsprachlich erkennen), daß sie nur durch den Mangel an Sprache verhindert werde, eine Rechenmeisterin zu werden, daß also in diesem besonderen Falle das höhere Denken an das Sprechen gebunden sei. Ich nehme diese Unterstützung meiner Anschauung nicht an, weil mir eine sichere Beglaubigung des Krähenzählens fehlt. Wäre die Sache wahr, so gehörte die Krähe im Rechnen auf dieselbe Bank wie die Patagonier, und Aristoteles, der bis zehntausend zählen konnte, käme gegen die Krähe mehr als einen herauf.

Ich glaube die Geschichte jedoch fürs erste nicht, weil sie in einem entscheidenden Punkte mit dem Zahlensinn anderer Tiere in Widerspruch gerät. Es lassen sich bekanntlich Pferde, Esel und Elefanten dazu abrichten, bis zu zehn zu zählen und sogar die menschlichen Zahlworte dafür zu verstehen, obgleich auch da einige Täuschung mit unterlaufen kann. Was nun dieses tierische Zählen vom menschlichen Zählen unterscheidet, das ist doch offenbar, daß diese Tiere trotz ihrer Abrichtung niemals auf den Einfall gekommen sind, ihre Rechenkunststücke in ihrem eigenen Interesse anzuwenden. Wie der Papagei nicht "spricht", solange er nicht in seinem Interesse spricht, nicht seine eigenen Gedanken ausspricht. (Montaigne, II. 12., weiß von Ochsen zu erzählen, Ochsen in Susa, die das große Bewässerungsrad genau hundertmal drehten, nachher aber unter keinen Umständen veranlaßt werden konnten, weiter zu arbeiten; aber die Geschichte ist historisch und psychologisch unkontrollierbar.) Im menschlichen Verkehr ist der bessere Rechner im Vorteil gegen den schlechteren; er kann nicht nur Ingenieur werden, wo der andere einfacher Arbeiter bleibt, er kann auch, wenn er z. B. ein gewandter Arbitrageur ist, auf der Börse einen einwandfreien Gewinn erzielen, er kann auf dem Markte besser einkaufen. Wenn ein Europäer von einem Patagonier Schafe kauft, so kann er ihm zwölf abnehmen, während er nur zehn bezahlt hat, weil der Patagonier den Unterschied zwischen zehn und zwölf nicht genau kennt. Niemals aber hat man davon gehört, daß ein dressierter Esel seinen ungelehrten Mitesel auf Grund seiner Rechenkunststücke betrogen habe. Was also dem Zählen der dressierten Tiere fehlt, das ist die Verknüpfung ihres Zahlenbegriffs mit ihrem Interesse. Die Menschen aber haben von jeher am Zählen ein sehr hohes Interesse gehabt, sind darum von Einheit zu Einheit immer weiter fortgeschritten und haben sich endlich die vier Spezies erfunden und das Dezimalsystem, mit dessen Hilfe heute jeder Schulknabe prinzipiell bis ins Unendliche zählen kann. Die Mathematik ist eigentlich nur eine Fortentwicklung dieser Kategorienreihe. Das Multiplizieren ist eine Abkürzung des Zählens, das Logarithmieren eine Abkürzung des Multiplizierens und die Algebra bis hinauf zur höheren Analysis eine Abkürzung des zahlenlosen Rechnens. Man hat gesagt, die Krähe könne nicht über drei hinaus zählen, weil ihr die Sprache fehle, weil sie nicht mit Hilfe der Sprache die Zahlenwerte (die man also für wirklich hält) zergliedern könne. Auch darum nehme ich diese Unterstützung meiner Anschauung nicht an. Die Zahlenwerte sind nicht in der Wirklichkeit. Nur der Mensch hat sich in seinem Interesse den Begriff der Einheit geschaffen und hat dann gelernt, diese Einheit zu vervielfältigen und zu vergleichen. Und so lange die Welt steht, wird kein Kopf sich irgend eine Zahl vorstellen können, ohne sich mit Hilfe unseres praktischen Zahlensystems ein ganz besonderes Zeichen für diese besondere Zahl zu bilden. Das ist nun der klassische Fall, in welchem offenbar der Gedanke und sein Zeichen absolut identisch sind. Man kann sogar behaupten, daß der praktische Rechner gewissermaßen gedankenlos mit den bloßen Zeichen operiere; und die Rechnung muß immer stimmen, weil die Zahlenzeichen eindeutig sind. Erst in den abstraktesten Regionen der Mathematik beginnt die Mehrdeutigkeit einiger Zeichen, die denn auch sofort Schwierigkeiten verursachen.