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Tote Symbole

Diese Beobachtung nun aber, daß es unbewußt gewordene, unbewußt entstehende und wieder unbewußt werdende Metaphern gebe, sagt allgemein aus, was ich eben bemerkt habe, daß jede Zeit ihren eigenen Sprachausschnitt habe, den sie für poetischen Gebrauch benutze. Jederzeit liegt die Sache so, daß die Masse der Nachahmerpoesie Gefühlsmetaphern gebraucht, die schon durch den Wortklang die gewünschte Stimmung erzeugen. Ein noch älterer Sprachausschnitt von Gefühlsmetaphern hat inzwischen seinen Stimmungswert verloren und ist zu unpoetischen Redensarten herabgesunken. Dann gibt es jederzeit Neuerer, welche neue Gefühlsmetaphern erfinden, die anfangs noch unpoetisch scheinen, weil das Volk ihren Gefühlswert nicht mitfühlt, die dann zu allgemeinen poetischen Ausdrücken werden, um schließlich wieder als Redensarten zu verlöschen. Ich habe solche aussterbende Metaphern der Poesie "tote Symbole" genannt, und dachte dabei zunächst an die toten Symbole der griechischen Mythologie.

Ich möchte an dieser Stelle bemerken, daß Goethe, der nach der italienischen Reise die sterbende Renaissance in Deutschland mit seinem Genie leider neu belebte, in seiner Jugend den toten Symbolen den Laufpaß zu geben geneigt war. In dem köstlichen siebenten Buche von Dichtung und Wahrheit erzählt er mit dem überlegensten Humor, wie er zu Leipzig das Hochzeitscarmen für einen Onkel verfaßt und den ganzen Olymp versammelt habe, um über die Heirat eines Frankfurter Rechtsgelehrten zu ratschlagen; wie der Professor der Poetik, an welchen Geliert die jungen Studenten gewiesen hatte, ihn darüber belehrte, daß jene Gottheiten nur hohle Scheingestalten wären. Goethe warf das ganze mythische Pantheon weg, "und seit jener Zeit sind Amor und Luna die einzigen Gottheiten, die in meinen kleinen Gedichten allenfalls auftreten". Das schlechte Gewissen beim Gebrauch dieser toten Symbole muß aber selbst in der reichsten Renaissancezeit, im 16. Jahrhundert, lebhaft gewesen sein. Ich möchte da an einen sehr merkwürdigen Umstand erinnern, daß nämlich Shakespeare in seinen parodistischen Stellen (z. B. in der Tragödie von Pyramus und Thisbe) genau dieselben toten Symbole zum Spaße verwendet, die anderswo bei ihm konventionell tragische Stimmung erzeugen sollen; ganz ähnlich arbeitet das andere große Genie der Zeit, Cervantes, in seinen ernsten Novellen mit den gleichen sterbenden Symbolen, die er im Don Quichote verspottet.

Den Kampf gegen diese "toten Symbole" der Antike habe ich schon vor Jahren in flüchtigen Skizzen, und ohne Zusammenhang mit dem Gedanken meiner Sprachkritik aufgenommen (Tote Symbole, 1892). Gymnasiallehrer haben sich über die Broschüre und besonders über ihr Motto entsetzt: "Cetcrura censeo, Romam esse delendam'', das ich so frei war, Hannibal in den Mund zu legen. Hier erscheint dieser ganze Kampf gegen die Antike, diese mir von so vielen Seiten verübelte Überzeugung, daß es endlich zu Ende sei mit der poetischen Renaissance (bei aller Ehrfurcht für ihre historischen Verdienste um Wissenschaft und Humanismus), hier erscheint dieses ganze wichtige Gebiet nur wie ein unscheinbarer Posten in der kritischen Sprachphilosophie. Denn Götter sind Worte, Worte sind Götter, und die griechische Religion ist nicht die einzige, die in den Worten der Sprache den ewigen Kreislauf zurücklegt, der von Metapher zu Metapher führt, vom Scheine einer Anschauung zu einem anderen Scheine, um in banalen Redensarten zu verblassen, die durch Eroberung neuer Stimmungen wieder neue Gefühlswerte erringen. Die Geschichte der poetischen Sprache bietet hierfür unzählige Beispiele. Ganz nahe berührt sich mit der antiken Mythologie die antike und überhaupt die alte Astronomie. Aus orientalischen Vorstellungen über das Verhältnis der Erde zu den Sternen sind Bilder in die Psalmen übergegangen und von da in unsere Kirchenlieder und in unsere Volkssprache, Bilder, die niemals eine wirkliche Anschauung gegeben haben und die heute an der Grenze stehen zwischen verblassenden Gefühlswerten und toten Redensarten. Das gilt von dem viel bewunderten Scheinbilde, welches die Erde zum Schemel Gottes macht, das gilt aber für aufmerksamere Ohren auch noch für alle Worte, die mit dem Sternenzelt, mit den Mächten über den Sternen, ja mit dem Worte Himmel selbst etwas wie religiöse Stimmungen erzeugen. Der Anblick der Sterne (des "Sternenheers" wäre schon eine tote Redensart) erweckt in dem verhältnismäßig unabhängigen Geiste Stimmungen ganz anderer Art, die man meinetwegen ebenfalls religiös nennen mag. Dieselben Sterne sind dann in der Astrologie, die ja einmal für Wissenschaft galt, mit neuen Gefühlswerten verbunden worden, die dann wieder in toten Redensarten wie "Napoleon folgte seinem Stern", "sie haben gehabt weder Glück noch Stern" gar keine Anschauung mehr bieten, sondern nur noch den letzten Rest einer poetischen Stimmung. Man kennt Kants berühmten Satz (Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß): "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Kant fährt fort: "Beide darf ich nicht .... bloß vermuten; ich sehe sie vor mir." Durch die Vergleichung mit dem bestirnten Himmel will er also die Anschaulichkeit des Moralgesetzes verstärken. Ich wage es: auch der bestirnte Himmel ist nicht Anschauung, ist nur Poesie, Religion — nur Moral.

Wir nähern uns, wenn der Leser meinen Gedankengang innerlich mitmacht, der Einsicht, daß dieser Mangel der poetischen Sprache, ihr Umhertappen in Scheinbildern, ihr Mangel an wirklicher Anschauung, nur ein Spezialfall ist, nur ein Beleg mehr dafür ist, daß die Sprache nicht einmal einen banalen Gegenstand ausdrücken oder mitteilen kann. Nehmen wir das Wort "Tod". In unserer poetischen Sprache hat der Dichtersmann beinahe die freie Wahl, ob er den leibhaftigen Tod bildlich so vorstellen will, wie man sich ihn vor zweitausend, vor tausend oder vor fünfhundert Jahren wirklich, d. h. im Volke, dachte: als Genius mit der umgekehrten Fackel, als scheußliches Gerippe, als ehrwürdigen Greis mit der Sense. Sogar der Zufall der Geschlechtsbezeichnung, ob es der Tod oder la Mort heißt, spielt bei der Phantasiebildung eine mächtige Rolle. Gibt nun irgend eine poetische Benutzung der Todespersonifikation irgend eine Anschauung? Doch wahrlich nicht. Die Personifikation ist in der Poesie beinahe schon bei der toten Redensart angelangt. Hauptmann, in seinem "Hannele", benutzt noch den Todesengel, sehr hübsch sogar, aber doch nur aus der Phantasie des fiebernden Kindes heraus. Maeterlinck in seiner "Intruse" möchte den Tod ebenfalls personifizieren, aber er findet kein Bild mehr für ihn. Der Gott oder der Engel oder das Gespenst des Todes ist — wie wir uns einbilden — aus der modernen Sprache verschwunden und auf den Altenteil der Poesie gesetzt, wohin sich der schöne Schein alter Anschauungen immer flüchtet. Wenn wir aber genauer hinhören, so steckt doch in dem vulgären Begriff "Krankheit", trotzdem Virchow ihn aus der Welt geschafft haben könnte, dieselbe Personifikation, der Gott, der Engel oder das Gespenst.