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Poesie und Metapher

Die Darlegung kann auf die späteren Ergebnisse dieser Sprachkritik (im 11. Kap. des II. Bandes) leider noch gar keine Rücksicht nehmen. Der Leser, der das Werk nicht zum zweitenmal gelesen hat — das wäre ein leeres Buch, das nicht zweimal gelesen werden müßte —, wird auch mit dem Begriffe der Zufallssinne noch nicht viel anzufangen wissen. Aber er wird es mit Zustimmung aufgenommen haben, wie ohne Entfernung vom Lessingschen Standpunkte schon die überragende Stellung der Poesie den anderen möglichen Künsten gegenüber und wie die Unwahrheit in der Überschätzung des Dramas angedeutet werden konnte. Nun aber werden wir lernen, was alle Theorie der Künste aufs neue ins Wanken bringt: wir lehren ja, daß unsere fünf Sinne Zufallssinne sind und daß unsere Sprache, aus den Erinnerungen dieser Zufallssinne entstanden und durch metaphorische Eroberungen auf alles Erkennbare ausgedehnt, niemals Anschauung der Wirklichkeit zu geben vermag.

Die vorerst noch paradoxe Vorstellung, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, läßt den höheren Wert der Wortkunst noch heller hervortreten. Wie erst das Wort oder der Begriff die verschiedenen Eigenschaften substantivisch zusammenfaßt, welche die einzelnen Sinne gewissermaßen vorhistorisch, ja vormenschlich als Wirkungen z. B. der Nachtigall wahrgenommen haben, wie das Wort Nachtigall für die Phantasie mehr leistet als die Erinnerung an eine der Beobachtungen, deren Ursache sie ist, so leistet die Poesie mehr als eine andere Kunst, ja mehr als die Summe aller anderen Künste. Denn wie unsere ganze Welterkenntnis nicht aus Deduktion, sondern aus Induktion entstanden ist, aus einer unvollständigen Induktion, wie es doch nur Stichproben aus der Wirklichkeitswelt waren, aus denen wir uns das Bild der Welt zusammensetzten, so vereinigt die Wortkunst die Daten der Zufallssinne zu einem Bilde, das durch seine Übereinstimmung mit sich selbst, d. h. durch die Möglichkeit seiner widerspruchslosen Wiederholung, doch mehr als Zufall zu sein scheint.