Zum Hauptinhalt springen

Sprache ein Kunstmittel

Und nun bedenke man, daß dieser unerreichte Wortkünstler oder Dichter, der doch nebenbei gegenständliche Fragen auch in Prosa unübertrefflich darstellt, man bedenke, daß Goethe nicht wußte, was Glanz ist, wie "Glanz" zu definieren wäre. Er wußte es ganz gewiß nicht, denn er konnte noch nicht einmal die Hypothese ahnen, die Dovc erst fünfzig Jahre später aufstellte, und er kannte auch den Versuch nicht, der unter dem Stereoskop aus schwarzen und weißen Flächen (also echt Goethisch) Glanz herstellt. Goethe wußte also nicht, was Glanz sei, und konnte doch als Künstler das unbestimmte Wort so herrlich anwenden, nämlich darum, weil es genügt, wenn in unserem Gehirn der Darstellungsendzweck dieses Wortes wieder erzeugt wird. Ob das Wort klar und deutlich ist, ist für die Mitteilung der Dichterstimmung gleichgültig.

Es traf sich gut für uns, daß in dem Beispiel gerade ein Begriff aus der Optik in Frage kam; da war ja Goethe ein bißchen Fachmann. Und im Zusammenhange damit ist es gewiß notwendig, daß Goethe, der doch so fein von weißen Lilien zu dichten vermochte, in eben der "Farbenlehre", die den Glanz nicht kennt, davon ausgeht, daß es außerordentlich schwer sei, sich deutlich zu machen, was man eigentlich unter "weiß" verstehe. Der Dichter weiß es, der Gelehrte eben nicht.

Aufs Geratewohl hatte ich die Verse "An den Mond" zum Ausgang gewählt. Der Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Sprache und der dichterischen Sprache, zwischen dem groben Werkzeug und dem feinsten Instrument, könnte noch heller beleuchtet werden an anderen Meisterstücken Goethescher Lyrik. "Der du von dem Himmel bist" (mit dem einzig schönen "der Schmerz und Lust"), "So laßt mich scheinen, bis ich werde", "Wer sich der Einsamkeit ergibt." Unsere besten Oberlehrer fühlen sehr wohl, daß die Handbücher, an die sie sich halten sollen, noch nicht begriffen haben: ein Gedicht ist nicht aus der Sprache der Prosa zu erklären.