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Entstehung der Sprache

Am Ende wird aber auch diese Kritik nur wollen, was alle Sprachwissenschaft von jeher wollte: die Erscheinung der Sprache erklären.

Die Sprache erklären! Schon die naiven Griechen versuchten so etwas, als sie darüber stritten, ob die Sprache durch die Natur oder durch einen Gesetzgeber entstanden sei. Die Entstehung durch einen Gesetzgeber muß die älteste, die theologische Antwort gewesen sein. Diese Antwort wurde übrigens von den wenig dogmatischen Griechen noch etwas vernünftiger gegeben als von den Christen des Mittelalters; die Griechen dachten doch halbwegs an einen menschlichen Gesetzgeber, einen Heros, einen Erfinder, wie sie denn in ihren Göttern gern die Erfinder wichtiger Kulturarbeiten verehrten. Auch darin waren sie den Christen vorzuziehen, daß sie bei der Sprache an etwas Konkreteres dachten, nämlich an ihre eigene Landessprache, an Griechisch. Die Christen — um unter diesem Namen die Völker der neueren abendländischen Entwicklung zusammenzufassen — gelangten sehr früh zu dem Bewußtsein, daß es viele und gleichberechtigte Sprachen gebe, und faßten so zuerst "die Sprache" als ein Abstraktum, das ungefähr den Sinn von "Sprachvermögen" enthielt, wenn davon die Rede war, daß Gott den Menschen die Sprache verliehen habe. Dieser für uns fast monströse Gedanke findet sich noch ganz ungeschwächt und pfäffisch in einem sonst so vorzüglichen Überblick über die bisherigen Ergebnisse der Sprachwissenschaft, wie es die Vorlesungen von Whitney sind. Es heißt da ("Die Sprachwissenschaft", bearbeitet von Jolly, 1874, Seite 555): "Der göttliche Ursprung der Sprache ist in dem Sinne aufrecht zu erhalten, in welchem die Menschennatur überhaupt mitsamt all ihren angeborenen und angenommenen Gaben Gottes Werk ist." Solche Komplimente für den lieben Gott können bewußte Heuchelei sein (woran ich an ähnlichen Stellen aus M. Müllers "Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft" nicht gern glauben möchte); sie können aber auch unbewußte Höflichkeit sein, Anpassung an die Volksgemeinschaft; und dann gehören sie schon selbst dem Gebiete des Bedeutungswandels an.

Wir müssen uns aber natürlich davor hüten zu glauben, alle diese Sätze, Fragen und Antworten hätten zu allen Zeiten den gleichen Sinn gehabt. Zu der Entwicklung der Sprache gehört es als ein begleitender Nebenumstand, daß die Worte auch da einen Bedeutungswandel erfahren, wo wir es nicht wissen. Und wo wir es wissen, bleiben wir uns des Wandels nicht immer bewußt.

So verbanden die Griechen ganz gewiß mit dem Gedanken, daß ein Gesetzgeber die Sprache gemacht habe, die kindliche Vorstellung, daß dieser Gesetzgeber die einzig richtige Sprache gemacht habe, natürlich die griechische. Ein Pferd hieß nicht nur hippos, es war auch ein hippos. Darin nun waren ihnen die Christen wieder überlegen, daß in ihrer Lehre von dem göttlichen Ursprung der Sprache ebenso gewiß die Vorstellung von einer gewissen Willkür steckte. Gottes Wille ist eo ipso Zufall. Es war Gottes Wille, daß es mehrere Sprachen gab; aber es gab doch mehrere gleichberechtigte Sprachen. Nationaler Dünkel mußte der internationalen Christenheit ursprünglich fremd sein. Auf den närrischen Einfall, die Sprachen etymologisch vom Hebräischen abzuleiten, kam man erst später, auf philologischem Wege. Es war kein theologisches Dogma.

Als nun dem Satze, die Sprache sei thesei (durch einen Gesetzgeber) entstanden, die neue Lehre entgegengestellt wurde, sie sei physei (natürlich) entstanden, waren ebenso naive Vorstellungen mit dem richtigen Gedanken verbunden. Es wäre darum ganz falsch, die gegenwärtige Auffassung von einer natürlichen Entwicklung der Sprache schon den Nachfolgern des Herakleitos zuzutrauen. Wir können uns eben kaum mehr in das Gehirn von Leuten hineindenken, welche die künstliche Sprachschöpfung leugneten, aber das Unbewußte des Vorgangs nicht ahnten und noch dazu von Natur eine "richtige" Sprache entstehen ließen. Die die Entstehung physei lehrten, fragten dabei immer noch nach dem Ursprung der griechischen Sprache. Unsere Sprachforscher lehren ebenfalls die Entwicklung auf natürlichem Wege; aber sie kennen seit Leibniz das Unbewußte der menschlichen Tätigkeit, die solche Wirkung erzeugt, und sie nehmen die einzelnen Sprachen als Tatsachen hin. Ihre Frage geht darum nicht mehr nach dem Ursprung der einzig richtigen Sprache, auch nicht einmal mehr nach dem Ursprung der Sprache überhaupt. Ihre Frage lautet vielmehr ganz bescheiden etwa so: durch welche historische Entwicklung ist es gekommen, daß wir (z. B. die Einwohner eines Fleckens in der Altmark) so sprechen, wie wir sprechen, daß die heutigen Bantuneger wiederum so sprechen, wie sie sprechen.

Diese Frage läßt sich teilweise beantworten; bald auf zwei oder drei, bald auf fünfzig, ja bis auf hundert Generationen zurück. Wie es Familien gibt, welche höchstens noch wissen, wie der Großvater geheißen hat und was er trieb, wie es andere, stolzere Familien gibt, die noch Nachrichten von ihrem Urahn besitzen, so gibt es junge und alte Sprachgeschichten. Hinter diesen beglaubigten Entwicklungen liegt aber jedesmal die Paläontologie der Sprache. Und die Frage der modernen Sprachwissenschaft ist darum so bescheiden, weil sie sich mit so dürftigen Nachrichten begnügt, und die vagen Hypothesen, welche die Vorgeschichte aufhellen sollen, noch dankbar mit in Kauf nimmt.

Während also die Alten das Abstraktum "die Sprache" nicht so wie wir fassen konnten, weil sie über ihre eigene Landessprache (wozu die Römer noch Griechisch trieben) nicht hinausdachten, konnten sie doch wieder nicht das Konkrete an der Sprache so erfassen, wie unsere Forscher, die wirklich bis zum Konkretesten, den Schallwellen, beinahe vorgedrungen sind. Die Sprachlaute werden als bewegte Luft zwar nicht mathematisch bestimmt, aber wohl physikalisch begriffen. Doch die Götzendienerei ist dem Menschen angeboren. Immer wieder versucht er den Sprung von den drei bis hundert Generationen, die er kennt, zurück zu den unzähligen, die er nicht kennt; immer wieder fragt er nach dem Ursprung "der" Sprache. Da er nämlich, wenn er ein besonnener Sprachforscher ist, wirklich nicht nach dem Ursprung eines jetzt gesprochenen Sprachstamms fragen dürfte, da die Frage nach dem Ursprung z. B. der Sanskrit-Wurzeln, mit welchen unsere indo-europäischen Sprachen begonnen haben sollen, wirklich nur wie ein kindischer Scherz klingt, so ist jede Untersuchung über den Ursprung der Sprache nicht mehr eine Beschäftigung mit irgend etwas Konkretem, sondern — was nur noch nicht in die Köpfe eingegangen ist — eine Rückkehr zu dem Abstraktum: "die" Sprache. In diesem Sinne ist also "die Sprache" ungefähr dasselbe wie das, was die ältere Psychologie "das Sprachvermögen" genannt hat. Es würde demnach die Frage nach dem Ursprung der Sprache, das heißt doch nach der ersten Betätigung des Sprachvermögens, identisch sein mit der Frage nach dem Ursprung des Sprachvermögens. Was ein Unsinn zu sein scheint.