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Militaria

Vaterländischer Unterricht

Wir haben gesehen, dass bei der alten deutschen Armee in der Verpflegung, in der Behandlung der Mannschaften durch die Offiziere, in Verwaltungsangelegenheiten die schlimmsten Mißstände geherrscht haben. Es bleibt nach wie vor verwunderlich, dass die deutsche Öffentlichkeit nicht vor dem Zusammenbruch darein, Einsicht bekam, umso mehr, als doch viele Soldaten ganz offen die allgemeine Verrottung erörterten.

Die vergiftende Arbeit des berüchtigten Kriegspresseamts hat hier das ihre getan. Wie diese traurige Behörde (übrigens ein Dorado aller reklamierten Reichen) die Zeitungen und die Landsleute in der Heimat behandelt und belogen hat, haben andre aufgezeigt. Der Laden der Luisenstraße wirkte aber auch vor allem ins Heer; wer zuerst Ludendorff den Gedanken eingegeben hat, die Soldaten über das Elend und den Jammer mit Flugschriften und Phrasen, mit Feldzeitungen und Reden hinwegzutäuschen, steht dahin: nach den ersten Kriegsanleihen begann jedenfalls ein prasselndes Agitationsfeuer über das Heer hereinzubrechen.

Die Taktik des Vaterländischen Unterrichts war wie die alte deutsche Regierung: hinterhältig, von oben herab und durchtränkt von der Unterschätzung aller Menschen, die nicht Offiziere und Regierungsassessoren waren. Daß man den armen Soldaten, die froh waren, wenn sie etwas zu essen hatten, ihren Urlaub bekamen und einmal aus dem allgemeinen Tanz heraus waren, falsche Zahlen über den U-Boot-Krieg und über Amerika auftischte, mochte hingehen – das tat man mit der Heimat auch nicht anders, und das Klappern gehörte schließlich zum schmutzigen Handwerk.

Widerwärtig war nur, wie man versuchte, mit Gewalt und mit albernen Darlegungen dem Soldaten einzureden, das sei eine herrliche deutsche Weltordnung, die da dem einen alle Mühe und dem andern allen Lohn zuwies.

Es gaben sich zu dieser schändlichen Tätigkeit fast alle deutschen Professoren – besonders die Philosophen – und fast alle bekannten Schriftsteller her. Die sogenannten ›Literaten‹ hielten sich von diesem Gewerbe meist fern, was zu ihrer Ehre gesagt werden muß. Der große Teil der Publikumslieblinge aber tat – reklamiert oder aus freier Neigung oder des Geldes wegen – mit und log das Blaue vom Himmel herunter über die Minderwertigkeit der Feinde und über die gottgefällige Verfassung des deutschen Heeres.

Der Vaterländische Unterricht bediente sich mannigfacher Kanäle, durch die er in das Heer sickerte.

Da waren zunächst die Feldzeitungen. Die ersten deutschen Feldzeitungen sind hübsche, nette Publikationen gewesen, mit nicht mehr Patriotismus, als eben grade notwendig war, mit viel Ulk und wenig Roheit, mit wenig Phrasen und viel gesundem Humor. Als die Feldprediger und die philologischen Reserve-Offiziere und die politisierenden Generalitäten aber das Ding in die Hand nahmen, stieg aus diesen Blättern – es gab annähernd fünfzig – eine unsagbare Scheußlichkeit auf. Nur wenige hielten sich von der allgemeinen Schlammflut frei: die Feldzeitung der vierten Armee tat ihr Mögliches, der ›Champagne-Kamerad‹ war eine literarische Ehrentat, und so gab es noch hier und da weiße Raben. Aber auch sie waren gezwungen, die Lügen und Verdrehungen des offiziellen Nachrichtendienstes abzudrucken, sonst hätte man sie verboten. Man war gradezu darauf aus, die Tendenz überall ins Alldeutsche zu kehren: ein Zeichner der großen Zei-tung der zehnten Armee, eines Blattes von schwer alldeutscher Prägung, das zu Wilna erschien, wurde, wenn er Wilson porträtierte, stets angewiesen, ihn recht jüdisch aussehend zu zeichnen. Dabei waren die Militärs, wie immer, wenn sie politisieren, feige: im Februar 1918 fand in Kowno eine Pressekonferenz statt, deren Protokolle nachträglich nicht mehr aufzutreiben waren. Es war eine große Sache gewesen, man hatte sich sogar zum Empfang der Pressevertreter aller östlichen Feldzeitungen einen General-leutnant verschrieben. Ich erfuhr später von einem Kameraden, der teilgenommen hatte, was der langen Rede kurzer Sinn gewesen war: die Feldzeitungen sollten sich die Sätze der Vaterlandspartei gesagt sein lassen, nicht etwa als offizielle Richtlinien, aber man verstünde doch hoffentlich … Man verstand.

Die Bearbeitung der Leute, hieß es im Reichstag, sei streng unpolitisch. Wer alles da die Kühnheit gehabt hat, so frech zu lügen, lohnt sich kaum aufzuzählen. Es kann keinen preußischen Kriegsminister gegeben haben, der nicht wußte, wie die Offiziere gegen den Reichstag hetzten, als dieser das Schlimmste wollte, was es für sie gab: den Frieden. Ich habe einmal mitangehört, wie ein kleiner rabiater Leutnant, ein Koksreisender aus Ostpreußen, vor der Front auseinandersetzte – es war aber in der tiefsten Etappe –: »Der Reichstag will den Frieden, und da lassen wir uns hier die Kugeln um die Ohren pfeifen – –.«

Was den vaterländischen Vorträgen jede Wirkung nahm, war, dass auch der letzte Mann fühlte, wie wenig der Offizier mit dem Herzen bei dem war, was er da vortrug. Es war ihm ja sichtlich gleichgültig, und die schneidig herausgekrähte Drohung, Amerika zu zerschmettern, und die hingenäselten großen Worte von deutscher Treue werden auch nicht immer die gewollte Wirkung gehabt haben. Einmal stand die Kompanie auf dem Hof zur Empfangnahme des Vaterländischen Unterrichts, und der Kompanieführer hielt eine einleitende Rede, in der er ungefähr sagte: »Und wenn ihr nicht pariert, dann gibt es ja noch Zuchthäuser in Deutschland! In Gruppen rechts schwenkt, ohne Tritt, marsch!«

Den Offizieren fehlte eben jede Verbindung mit dem Mann. Als Mudra in der achten Armee – es war im Herbst 1917, und die Lebensmittelknappheit hatte grade begonnen – den Ausfall zweier Abendportionen in der Woche angeordnet hatte, stellte sich ein junger Oberleutnant vor die Kompanie und setzte den Leuten diese Maßnahme sehr verständig und klar auseinander. Er sagte, die ersparten Portionen kämen den Schwerarbeitern in der Heimat zugute, und wir müßten alle zusammenhalten. Das machte Eindruck. Aber es war alles zerblasen, als wir erfuhren, wohin der junge Herr nach der Rede gegangen war: in das Schloß, in dem die ›Herren‹ lagen; dort aß er ein Abendbrot aus reichlichen Gängen. Und es wurde gut gekocht, im Schloß …

Was sich der deutsche Offizier eigentlich vom Mann gedacht hat, dass er ihn so sinnlos unterschätzte und ihn für so unmenschlich dumm und blind hielt, habe ich nie ergründen können. Auch diejenigen, die die ganze Stufenleiter vom Mann bis zum Leutnant durchgedient hatten, sahen den ›Kerl‹ als ein Wesen niederer Art an; die Zeit, die sie dem Mannschaftsstande angehört hatten, rechnete nicht, es war eine Übergangszeit gewesen. Für den Mann hatten sie Phrasen oder Gewalt übrig, von Herz zu Herz sprach kaum einer. Was ist das für eine Sprachmelodie:

»Was uns auch das vierte Kriegsjahr bringen möge, eins steht bombenfest: wir lassen die Hunde von Negern, Englishmens, Franzosen, Zulukaffern und Kosaken nicht in die deutschen Gaue rein, solange wir noch eine schwere Artillerie und Flieger haben. An dem Tage, wo uns unser Kaiser und oberster Kriegsherr und Vater Hindenburg zurufen sollten: ›Auf nach Petersburg, nach Paris oder London und die Nester zusammengeschossen und ausgeräuchert, damit der Feind endlich Ruhe gibt und Frieden macht !‹, möchte ich grade bei euch sein und mit euch das erlösende Hurra schreien, und ich wüßte mir nichts Lieberes, als dem Fußartillerie-Bataillon als Flieger voran zu fliegen und ihm Weg und Ziele zu zeigen.«

Es ist ja nicht wahr, dass der deutsche Soldat ›das haben will‹, dass er ›das braucht‹ Vielleicht war das 1870 so, als verhältnismäßig wenig gebildete Leute unter den Mannschaften waren. Diesmal aber ist die ganze Intelligenz, und meist in den niedersten Chargen, mit zu Felde gezogen, und daher wird es auch wohl kommen, dass dieser glorreiche Krieg einen so kleinen Heiligenschein trägt …

Im schlechten Sinne deutsch war das Ganze, der Vaterländische Unterricht und der uralte verderbliche Aberglaube, man könne mit Verfügungen, (die immer einer dem andern weitergab und die keiner ausführte) irgend etwas, die Gesinnung betreffend, erreichen. Es fiel manchen Offizieren auf, dass nicht alles in Ordnung war. Aus einem Befehl:

»Wie stumpfsinnig und gleichgültig eine Truppe werden kann, habe ich heute morgen auf dem Marktplatz beobachtet, wo zahlreiche Leute, die nichts zu tun hatten, umherstanden und in einem Augenblick, in dem ein Flugzeug in sehr geringer Höhe stark schwankend und immer wieder von neuem Gas gebend den Marktplatz überflog, zu faul waren, diesem auch für jeden Laien interessanten Vorgang mit den Augen zu folgen. Nicht ein einziger zeigte, dass in seinem Verstand oder in seiner Seele auch nur eine Spur von Teilnahme an auffälligen und in nächster Umgebung sich abspielenden Vorgängen vorhanden war. Jeder blickte stumpfsinnig wie eine Kuh oder wie ein Ochse in irgendeine Ecke und das stundenlang. Das sind Anzeichen, die jedem Vorgesetzten unter allen Umständen erneut zu denken geben müssen, und die ihn dazu veranlassen müssen, sich sofort auf das Büro zu begeben und dort ein gründliches Programm zu entwerfen, welches geeignet ist, energisch Wandel und Abhilfe zu schaffen.«

Vom Büro aus führt man keine Soldaten. Es hieß zwar dann weiter, man müsse mit den Leuten reden, ihnen ins Auge sehen … Du lieber Gott! wer hatte von den Offizieren Zeit oder Lust dazu? Das Offiziersleben und das Mannschaftsleben waren zwei ganz verschiedene Sachen.


Ich habe in den vorstehenden Kapiteln einige Einzelzüge aus den Hauptgebieten des soldatischen Lebens gestreift, von denen ich glaube, dass sie nicht zum wenigsten an dem allgemeinen Zusammenbruch, der so überraschend schnell gekommen ist, schuld sind. Die Frucht war reif und fiel vom Baum.

Was aber immer wieder nachwachsen kann, was in all diesen elenden Jahren bezeichnend für das deutsche Unwesen war, was heute noch keimt und doch nie wieder zur Blüte kommen soll, das sei mir erlaubt in dem Schlußwort zu sagen, in dem gezeigt werden soll, warum die Deutschen auf ihre Armee auch im Frieden so übermäßig stolz waren, und warum sich noch der letzte Bezirksvereinsvorstand in die Brust warf und schmetterte: »Unser Militär!«

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 13.02.1919, Nr. 7, S. 159.