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Schlangenmoos

»Für die Schutzpolizei wurden als Frühlingsanfang Kurse eingerichtet, die sie in die Kenntnis der Bestimmungen einführen sollten, welche Tier- und Pflanzenarten dauernd unter Schutz zu stellen sind. Lycopodium (Bärlapp-Pflanze oder Schlangenmoos) wurde ihr besonders ans Herz gelegt.«

Da liegts gut. Und dicht daneben liegt eine Ministerialpolizeiverordnung vom 30. Mai 1921, durch die eine ganze Anzahl von Tieren und Pflanzen beschützt werden. Sie dürfen weder feilgehalten noch angekauft, verkauft oder befördert werden. Wenn keine deutschvölkischen Pflanzen gemeint sind, ist folgendes dazu zu sagen:

Hunderttausende von Säuglingen siechen dahin, weil das Land nicht genügend Milch an die Stadt liefert und weil diese Milch an die Marzipanfabrikanten verschoben wird. Ackerknechte wohnen und leben unter entwürdigenden Umständen. Der Schulunterricht ist ungenügend; es fehlt allerorten an Lehrmitteln, an gutbezahlten Erziehern, an Büchern. Die Armenpflege funktioniert schlecht; die Krankenkassen geben den größten Teil ihres Geldes für die Verwaltung aus. Die Rechtspflege schreit zum Himmel. Was tut der Staat?

Er kümmert sich um Schlangenmoos. Er hat weiter keine Sorgen, als dass diese gewiß sehr schätzenswerte Pflanze »im Straßenhandel vornehmlich zu Dekorationen von Tafeln oder auch zur Herstellung von Kränzen feilgehalten und verkauft« wird – und richtet einen Kursus für seine Beamten ein, damit diese Trefflichen Lycopodium clavatum, den Kolbenbärlapp, von dem Gürtelkraut wohl zu unterscheiden vermögen! Damit beschäftigen sich erwachsene Menschen.

Aber ist das nicht ein Sinnbild dieses Staates überhaupt? Weit entfernt, auch nur den allereinfachsten Forderungen, die man an ein Gemeinwesen stellt, gerecht zu werden, streckt er seine Fühler mit den Beamtensaugköpfen in die feinsten Verästlungen des Lebens, und nicht eher wird dieser Polyp, dessen abgehauene Arme sofort nachwachsen, dahinsterben, als bis man erkannt hat, was er ist. Und als bis man danach handelt.

Das Beamtentum des modernen Staates ist Selbstzweck und verwendet seine Hauptkraft darauf, sich zu erhalten und sich zu vermehren. Der Überschuß kommt in mannigfacher Form dem Gesamtinteresse zugute (oder auch nicht). Es ist nicht wahr, dass die Allgemeinheit, wie man theoretisch lehrt, ihre Beamten, die sie gar nicht kennt, mit der Verwaltung beauftragt. In das Beamtenhaus huscht der Stellungsuchende durch die Hintertür, weil ihn drinnen die Pension lockt; aus dem Fenster des Vorderhauses sieht er stolz hinaus und behauptet, einen Auftrag zu haben. Und kümmert sich um Schlangenmoos.

Streiche dem modernen Staat die tausend läppischen Aufgaben, deren Lösung er sich anmaßt, ohne auch nur die einfachsten erfüllen zu können, und du machst Tausende von Beamten überflüssig. Wann tun wirs?

Inzwischen sei gutes Muts. Dein Grünkramfritze wuchert, dass seiner Frau das Fett unter der Haut kocht, Verbrecher werden geprügelt, statt dass man sie straft, Wohnungsuchende zerreiben sich im Mechanismus der Ämter, und wenn ein Krieg ausbricht, krepiert all das vor den Maschinengewehren aus deinen Steuergroschen. In diesem Höllental aber siehst du ein Idyll:

Blutbeschmiert, bestochen, in den Händen die offiziöse Presse und in den Taschen die Schatzanweisungen der Großindustrie, roh und sentimental zugleich, wandelt dort der Vater Staat, auf seinem Haupte ein Kränzlein von Schlangenmoos. Und sorgfältig achtet sein klobiger Fuß, dass er keines dieser Pflänzchen zertrete.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 10.08.1922, Nr. 32, S. 149.