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Der Paß und der Reisende

Jemand sagte: Nach zweijährigem Aufenthalt im Ausland nun sechs Wochen wieder in Deutschland weilend, beginne ich einen Einfluß der deutschen Atmosphäre auf meine Urteilskraft festzustellen, die ich zunehmende Minderwertigkeit des Charakters, Verlust an Charakter nennen muß. Ich spreche nicht von den äußeren, bürokratischen Miseren eines verarmten und mehr als je übervölkerten Landes, die die Spannkraft herabsetzen und das Gefühl, ein unabhängiger Mensch zu sein, verhöhnen …

Otto Flake: ›Dinge der Zeit‹

Der Frühling naht und mit ihm die Zeit, wo der Deutsche auf die Wanderfahrt geht. Die Zeit der sechswöchentlichen Erholungsreise des Mittelstandes mit Kind und Kegel ist vorbei – froh ist, bei wems acht oder vierzehn Tage langt –, aber man will doch einmal aus dem Trott und dem Einerlei des Tages heraus. Früher … ! Man darf gar nicht mit der alten Zeit diese neue da vergleichen –, aber abgesehen von Fahrpreiserhöhungen, Hotelrechnungen und ähnlichen Freundlichkeiten –, eines hat sich als ganz neues eingeschlichen: der Paß.

Was ist und zu welchem Ende brauchen wir einen Paß?

Es ist zunächst festzustellen: der Paß ist eine überholte Lächerlichkeit vergangener Jahrhunderte, die eine sonst stellungslose Bürokratie benutzt, sich Arbeit und Existenzberechtigung – uns anderen Schwierigkeiten zu schaffen. Der Paß schützt nichts und keinen – er hindert Harmlose.

Bekannt ist, dass sämtliche Paßbestimmungen von gewandten Schiebern umgangen werden können und umgangen werden. Kein Bolschewist ist je durch einen Paßzwang gehindert worden, dahin zu fahren, wohin er fahren wollte – kein Lebensmittelschieber hat sich durch Pässe gehindert gefühlt, seinen Speck von einem Landstrich in den anderen zu verschieben. Der Paß hindert allemal die Harmlosen.

Er dient angeblich zur Kontrolle politisch mißliebiger Elemente. Wir wissen, wie die kaiserliche Bürokratie des republikanischen Deutschland diese Regulative auslegt – wir wissen sehr wohl, wer ›politisch verdächtig‹ und wer ›unverdächtig‹ ist. Escherich und Sinowjew sind so verschieden nicht – ihre Behandlung durch die Behörden ist es durchaus.

Dazu kommt ein anderes. Der Paßapparat setzt eine Menge Leute in Nahrung und Anstellungsvertrag, die sonst arbeitslos herumliefen – und der Paßzwang setzt ferner eine Gattung Deutscher in die Lage, jenen merkwürdigen, dem Ausland vollkommen unverständlichen Amtssadismus sich austoben zu lassen. Ein genauer Kenner der österreichischen Bürokratie – Walther Rode – riet einmal, an den Amtsstuben schon von vornherein ganz unten, an der Schwelle, anzuklopfen – um auf diese Weise darzutun, wie man sich als Laus dem Allmächtigen gegenüber fühle. Sich in Deutschland einen Paß und gar ein Visum zu verschaffen, bedeutet eine persönliche Erniedrigung.

Dazu kommt die gänzliche Unbekümmertheit der verfügenden Geheimräte, wie so eine praktische Durchführung ihrer Bestimmungen aussieht. Die geradezu unwürdigen Verhältnisse im Berliner Polizeipräsidium für Paßsuchende, wo Menschen sechs und acht Stunden zu warten haben, sind den oberen Stellen wohlbekannt – man hat durchaus den Eindruck, als käme es diesen Behörden darauf an, Reisen ins Ausland möglichst zu verhindern. (Die Verpflichtung des Reisenden, die Notwendigkeit seiner Reise darzutun, ist ein Mißbrauch der Amtsgewalt.)

Die Freizügigkeit ist aufgehoben. Fristen von sechs Wochen zur Erfüllung aller vorgeschriebenen Formalitäten für Paßnachsuchende sind nichts Seltenes.

Ganz besonders schlimm ist dies aber, wenn es sich um Reisen innerhalb Deutschlands handelt. Da ist ganz besonders Bayern zu erwähnen.

Der Reisende hat vollkommen in der Hand, diese lächerlichen Paßvorschriften zur Aufhebung zu bringen. Das Mittel heißt: Boykott!

Ihr braucht nur auf einen Sommer alle Länder zu meiden, die euch das Reisen und seine Vorbereitungen zur Hölle machen – und ihr werdet sehen, wie schnell die überholten Paßvorschriften aufgehoben werden.

Ich habe neulich einmal in der ›Weltbühne‹ einen kleinen Ratschlag gegeben, Bayern zu meiden – die bayerische Presse tobte; bis nach Thüringen hinauf drohten zum Schreiben angestellte junge Leute mit Ohrfeigen – und jetzt berichtet Leonhard Adelt aus München, dass die bayerischen Fremdenvereine und Gastwirtschaftsverbände gegen die Regierung Sturm laufen, um die lästigen Paßvorschriften zu beseitigen, die ihnen die lukrativen Fremden fernhalten. Es hilft schon.

Reisende – ihr habt die Macht. Ihr braucht euch nur zu wehren!

Sie kommen euch alle nachgekrochen – denn sie leben von euch. Die Scheuel- und Greuel-Märchen aus den besetzten Gebieten waren noch nicht verhallt, als die rheinischen Bäder eine große Kundgebung erließen, man solle sie doch nicht boykottieren: keinem Reisenden sei bisher von den Entente-Truppen ein Haar gekrümmt worden. Auch seien keine Pässe, sondern nur gewöhnliche Personalausweise nötig … Wenn es an den Geldbeutel geht, werden sogar Behörden weich.

Ihr habt die Macht. Jeder, der auch nur ein bißchen Geld sein eigen nennt, soll sich hier seiner Macht bewußt sein. Es geht nicht an, Berlin das ganze Jahr über in allen Tonarten zu schmähen – und dann im Sommer quietschvergnügt das Geld der verfluchten Berliner – aber in hohem Bogen – zu nehmen. Besinnt euch!

Meidet Bayern! Meidet es so lange, bis es sich dort unten herumgesprochen hat, dass auch Brandenburg in Deutschland liegt. Weigert euch, eine besondere Einreisebewilligung nach Bayern nachzusuchen und pfeift auf das Land! Ich kenne allein in meiner Bekanntschaft vier Fälle, wo wohlhabende Leute auf meine Darlegungen anderswo hingereist sind; sie sahen ein, dass es nicht notwendig sei, Leuten, die sie schikanieren, das Geld hinzuwerfen. Die Sprache wird verstanden.

Weigert euch in allen Fällen, wo deutsche Städte – wie Danzig oder Königsberg und andere – übertriebene Schutzmaßnahmen von euch verlangen. Geht nicht hin. Holstein ist schön und Mecklenburg und der Harz und hundert Orte – auch Baden und Württemberg benehmen sich den Reisenden gegenüber im allgemeinen ganz verständig. Euer Geld ist keine Bagatelle. Sie lernen es sehr schnell.

Hier ist die Möglichkeit, durch den Boykott eine politische und eine menschliche Pflicht zu erfüllen.

Eine politische: jede Mark, die ihr den Bayern, so wie sie heute sind, hinwerft, stärkt die Macht dieser Radaubrüder.

Eine menschliche: wir wollen keinen russischen Paßzwang. Die Behörde hat nicht die Berechtigung, ihre Nase in jedes Bett zu stecken. Sie faßt immer nur die kleinen Pinscher. Der Große geht stets frei aus.

Denn unter diesem irren System blüht die Korruption. Kein Attest, kein Visum, keine Bescheinigung, die nicht hintenherum zu kriegen wäre.

Verbittet euch den überheblichen Unteroffizierston, der besonders noch auf manchen Polizeibüros herrscht.

Schuld ist letzten Endes nicht der falsch erzogene, nervöse, überarbeitete Subalternbeamte am Schalter. Schuld ist auch letzten Endes nicht der vernagelte Geheimrat, der sich Vorschriften ausknobelt. Schuld seid ihr.

Wenn ihr nur zusammenhaltet – wenn ihr euch einfach weigert, derart entwürdigenden Unfug mitzumachen, so wird sich der Paßzwang sehr schnell auf das Maß reduzieren, in dem er allein Berechtigung hat: als Schutz gegen Verbrecher und Übervölkerung. Alles andere ist kindlicher Kram.

Wenn ihr das deutsche Gesellschaftsspiel ›Wie bekomme ich einen Paß?‹ beenden wollt –: benutzt diesen Sommer dazu und die Macht eures Geldes. Es wird sehr schnell gehen.

Ignaz Wrobel
Welt am Montag, 18.04.1921.