Zum Hauptinhalt springen

Das nervöse Paris

Paris, 21. Dezember 1924

Paris ist nervös.

Eine merkwürdige Unruhe hat die Stadt ergriffen. Der Vergleich mit dem »großen Schrecken«, der um 1789 herum ganz Frankreich erfaßt hat, liegt nahe. Es ist jene Massenangst, die damals Räuberbanden, rote, weiße, ausländische Armeen um die nächste Ecke kommen sah, die Tausende von Männern immer en vedette sein ließ – auch das moderne Rußland hat diese panischen Massenbewegungen ohne realen Grund ja kennengelernt. Es soll aus Paris ein stärkerer Abfluß reicher Leute nach dem Süden erfolgt sein – Gerüchte schwirren und werden dementiert; die einen sagen, die Kommunisten seien daran schuld, die andern: die Reaktionäre, die dritten: die Konservenhändler – denn es gibt viele Familien, die nicht wegreisen können und sich aus Angst vor etwas Kommendem »eindecken«. Diese Erscheinung hat das Straßenbild nicht verändert – es ist kaum etwas zu sehen –; aber man wittert leise Vorläufer einer Panik. Die Vernünftigen selbst fragen: »Können Sie sich diese Panik erklären?« – womit sie ihre Existenz zugeben. Die Stadt ist nervös. Neulich wurde auf dem Boulevard ein Chauffeur von einem Schutzmann angehalten, weil er an einen andern Wagen gefahren war. Im Nu waren zwei–, dreihundert Menschen um die beiden versammelt, alle Welt nahm Partei gegen den Schutzmann, es gab eine mächtige Keilerei, bei der Freund und Feind nicht durch die Gesinnung, sondern durch die räumliche Nähe gegeben waren, und dem Chauffeur wurden die Kleider in Fetzen vom Leibe gerissen. Verstärkung von Polizisten, Massenaufzug vor der Präfektur – und das alles wegen des Chauffeurs … wegen gar nichts. Der Vorfall war keine Ursache zum Spektakel, sondern Anlaß, Zeichen einer innern Unruhe. Hier stimmt was nicht.

An der Börse waren vor ein paar Tagen die üblichen Coulissiers-Gerüchte verbreitet – »Eisenbahnerstreik!«. Nicht eine Silbe wahr. Der Polizeipräsident von Paris hat dann eine Untersuchung eröffnen lassen, um die Urheber dieser törichten Gerüchte zu ermitteln … Paris ist nervös.

Nun ist Paris in dieser Hinsicht nicht Frankreich – die kleine Landstadt geht ihren Trott, und die Leute in Avignon scheren sich den Teufel um die Pariser Nervosität, freuen sich, dass sie endlich ein mondänes Hotel haben, und machen nach wie vor ihre Geschäfte. Aber nach Avignon fragt kein Mensch – an Paris mißt jeder das ganze Land. Und Paris ist nervös.

Die Sache fing so an, dass sich die reaktionären Kreise nach der ersten Verblüffung über ihre große Niederlage am 11. Mai rasch sammelten und erholten, ihre Presse wurde kecker mit jedem Tag, und der alte sozialistische Renegat Millerand bildete mit den Klerikalen, die in Frankreich fast ohne Ausnahme zur schwärzesten Reaktion gehören, mit den Nationalisten und mit den Bankiers einen festen Bund. Er formte seine patriotische Liga, er begründete seine Zeitung – »L'Avenir« –, er hielt Reden und war auf dem Plan. Zunächst wurde er ausgelacht.

Dann kam die Frage an die Reihe, ob in Elsaß-Lothringen zur strikten Anwendung der Gesetze gegen die religiösen Orden für die weltliche Schule geschritten werden solle. Die Geistlichkeit, die unter dem deutschen Regime eine andre Machtposition gewöhnt war, schrie Zeter und Mordio. Nun ist hier ein Vergleich nicht am Platze – der französische Katholizismus und der deutsche sind, politisch betrachtet, so völlig verschieden, dass eine Identifizierung zu den allerschwersten Irrtümern führen würde. So wie ja auch die französische und die deutsche Demokratie, die französische und die deutsche Sozialdemokratie einander wesensfremd sind – es ist ein Grundfehler, das gleiche Etikett mit dem andersgearteten Inhalt der Flaschen zu verwechseln. Der französische Klerus kreischte also auf, und im ganzen Lande setzte eine rege Agitation ein. Die große politische Tradition und die immense Geschicklichkeit der Leute aus Rom läßt nun eine solche »Propaganda« in Frankreich ein bißchen anders aussehen als das blöde Gepöbel unsrer zukünftigen Richter, Regierungsräte, Staatsanwälte, Ärzte und Professoren, die heute noch die deutschen Universitäten schänden. Das brüllt im Lande herum, sauft Bier und weiß nicht, wo Gott wohnt. Die hier wissen es. Die Mischung von abgefeimter Demagogie und raffinierter Dialektik, die tiefe Menschenkenntnis, die den Hörer nicht da faßt, wo er hart ist: im Verstand, sondern da, wo er weich ist: im Herzen, die nicht den Bürger anredet, sondern den Familienvater

– das ist verbunden mit großem Wissen, echter Bildung, einem Training des Gehirns fast ohne Beispiel.

An jeder Vespasienne – so heißen diese kleinen runden Blechhäuschen, die so häßlich sind – klebte ein »Offener Brief an Herrn Herriot«, verfaßt von einem Pater, der den Krieg mitgemacht hatte – »Ich habe Herrn Herriot nirgends getroffen: weder am Chemin-des-Dames noch … « –, und der die Worte enthielt: »Wir sind 1914 gekommen, ohne dass man uns gerufen hat – wir werden jetzt nicht gehen!«

Im allgemeinen hat diese Propaganda auf den sehr logisch denkenden Franzosen nicht ganz die erhoffte Wirkung gehabt – aber sie war doch gefährlich genug. Vor allem da, wo sie sich versteckt gab und die großen Worte um der großen Wirkung willen mied.

Der Hebel, an dem man das Rad angreifen konnte, war der Kommunismus.

Mag sein, dass Sinowjew mit seiner europäischen Taktik eine ganz bestimmte Linie einhält – aber beurteilt man diese Taktik nach ihren Wirkungen, so muß man sagen, dass die Russen entweder ihre ganze Kraft auf den Fernen Osten und keinen Wert auf Europa legen, oder dass Sinowjew ein Dummkopf ist. Es gibt keine Dummheit, die die französischen Kommunisten nicht gemacht hätten. Sie haben, wie überall, die bürgerlich verdächtigen Intellektuellen weggejagt, die »Humanité« wird heute von Leuten dritten Ranges gemacht, sie heulen im Parlament die ganze Skala des Bürgerschrecks herunter – und arbeiten nicht. Sie sind der schlimmste Feind der französischen Demokratie, ihr unerbittlichster, ihr schädlichster. Wollen sie das? Ist das ihre Taktik, sich auf alle Fälle gegen diese nicht mit der deutschen vergleichbare Demokratie des Westens zu wenden, weil natürlich auch sie nicht die große Frage des Arbeitslohns, der Bodenverteilung, kurz: einer Revolutionierung löst, lösen kann, lösen will? Soll das so sein?

Die Wirkung ist – gewünscht oder nicht gewünscht – katastrophal.

Alle Industrien, die an einem Krieg, an der Unordnung, an der wilden Anarchie zwischen den Staaten interessiert sind, malen den schwarzen Mann, den Bubu, die rote Gefahr aus Moskau an die Wand. Die Geistlichkeit, die Banken, die vor einem neuen, saubern Regime Angst haben, die Reaktionäre aller Schattierungen – alle atmen erfreut auf. »Eine Kommunistenschule ausgehoben!« »Sadoul in Frankreich!« Die Kommunistenschule war eine der üblichen Parteiseminare, und Sadoul ist nach Frankreich gekommen, um sich begnadigen zu lassen; ob und wieweit er sich vorher über diese Begnadigung orientiert hat, mag dahingestellt bleiben. Auch Guilbeaux wurde erwartet, kam aber nicht. Die Amnestie wird wohl im Senat knapp durchgehen – und die Kommunisten sind um ein paar Märtyrer ärmer. Eine große Kommunistenrazzia fand statt: annähernd hundert Ausländer wurden ausgewiesen (darunter nur ein Deutscher, aber viele Italiener) – das Raunen hört nicht auf, die Gerüchte lassen nicht nach, Paris ist nervös.

Ich halte diese künstlich erzeugte Unruhe für die Wirkung der oppositionellen Propaganda. Zu einer Unruhe hat das tief bürgerliche Frankreich keinen Anlaß. Da ist ein gesundes Land, mit einer völlig intakten Bauernschaft, mit einer Währung, die auch durch internationale Spekulation nicht so leicht kleinzukriegen ist, wie sich das die Francbaissiers denken (einmal hat sich das ja zum Glück schon gezeigt, und der frevelhafte Versuch, vierzig Millionen Menschen ins Unglück zu stürzen, hat zum Glück auch Herrn Castiglioni einen Teil seines Vermögens gekostet), es gibt in Frankreich eine ganz geringe Arbeitslosigkeit – also warum Panik?

Weil der mächtige und einflußreiche reaktionäre Teil des Landes seinen Bürgern mit aller Gewalt einreden will, es müsse mit Arbeiterdrosselung, Börse und Knebel regiert werden. Weil das so ganz anders geartete und anders begründete Vorbild Englands die französischen Konservativen zu dem Glauben verleitet hat: Was drüben möglich ist, können wir auch! Weil der ungeregelte Wirtschaftsbetrieb, das neckisch so genannte »Spiel der freien Kräfte«, wobei alle Menschen, die nicht wie die Bullenbeißer hinter ihres Nächsten Geldschrank her sind, unter den Wagen kommen, nicht gestört werden soll. Weil Hausbesitzer, die hier mit ihren Mietern einen gradezu unerhörten Wucher treiben, weil Arbeitgeber und Industrieherren in »Ordnung« verdienen wollen. Stört sie die Regierung, vor der sie Furcht haben? Und um deren Entfernung willen sie der Bevölkerung von Paris Furcht suggeriert haben?

Sie stört sie leider nicht genug. Man ist von Herrn Herriot ganz leise enttäuscht.

Und zwar nicht, wie der vertrottelte Amtsrichter von Klein-Kleckersdorf an der Klecker meint, weil er zu demokratisch, sondern weil er nicht demokratisch genug regiert. Auch hier zeigt sich wieder, dass alle Taktik, alle Strategie, alle »Realpolitik« zur Macht gekommener Oppositioneller für die Demokratie stets übel ausschlagen. MacDonald ist daran gescheitert (aus andern Gründen); Herriot kann daran scheitern.

Es ist nicht nur deshalb so, weil selbstverständlich jeder Beamtenapparat reaktionär ist und sich durch eine Kooption ergänzt, die keine »Außenseiter« im Klan haben will; nicht nur deshalb, weil ein reaktionärer Klüngel den Verwaltungsapparat, der ihm ergeben und adäquat ist, glatter laufen lassen kann, nicht nur deshalb, weil die Regierungsgewohnten eine größere Routine haben – in der Behandlung von Menschen, Akten, Parlamentsparteien –: es ist so, weil den demokratischen Regierungen Europas der Mut fehlt.

Die Kommunisten sagen: die Fähigkeit. Sie könnten nicht, denn auch sie wären Sklaven des kapitalistischen Regimes, tausendfach gebunden.

Ich weiß doch nicht recht. Es hat hier in Frankreich eine Menge Reformen gegeben, die man von dem Kabinett Herriot sofort, auf der Stelle, in den ersten Wochen erwartet hat – es ist nichts erfolgt, und sie hätten nicht einmal gar soviel gekostet. Die Amnestie kommt ein bißchen zögernd; die Wiedereinstellung der Eisenbahner, die im Jahre 1920 wegen des großen Streiks auf die Straße gesetzt worden sind, wird nicht mit der kräftigen Geste vorgenommen, die nötig wäre, um Eindruck zu machen; die Bekämpfung der »vie chère« ist nicht einmal zu spüren – die Leute sind unzufrieden, enttäuscht, nervös.

Tritt dazu, dass Herriot seit ungefähr vierzehn Tagen bettlägerig Ist. Das ist persönliches Pech; und es wird auf der andern Seite wacker ausgenützt. Die »Liberté« des Herrn Taittinger, Deputierten von Paris, setzt an den Kopf des Blattes dieses unübersetzbare Wortspiel: »Monsieur Herriot est forcé à garder la chambre … mais la Chambre n'est pas forcé à garder Monsieur Herriot«, sowie das übersetzbare: »Um nicht zu fallen, hat sich Herr Herriot ein bißchen hingelegt!« Und so geht das munter alle Tage. Zugegeben, dass es immer gefährlich ist, wenn ein Ministerpräsident auch das Auswärtige hat, so dass nun alles auf seine zwei Augen gestellt ist – aber wo ist das Ministerium? Man sieht es nicht, man hört es nicht, und die Güte des Herrn ernährt es doch.

Die internen französischen Skandale will ich dabei nicht einmal erwähnen. Die reißen hier niemals ab. Herr Billiet hat zur Wahl Geld gegeben; wem hat er Geld gegeben, wer hat genommen, wer hat nicht genommen; du hast einen Scheck bekommen, ich habe keinen Scheck bekommen … das allein ist es nicht. Es ist die tiefe Unzufriedenheit von Leuten, die man so lange nervös gemacht hat, bis sie es glücklich geworden sind.

Es muß gesagt werden, dass Deutschland in all dieser Nervosität keine Rolle spielt. Kein Mensch spricht davon. Noch immer gibt es Unentwegte, die in Deutschland den Erbfeind sehen (aber sie sind verschwindend klein, diese Gruppen); die Politiker blicken unruhig über den Rhein, welche Dummheit man nun wieder dort machen wird, um ihnen hier ihre schwere Aufgabe noch mehr zu erschweren – das Volk spricht nicht von Deutschland. Der stille Handel des Handelsvertrags geht fast unbeachtet vor sich – die Wirkungen werden die Konsumenten ja nachher spüren. (Ein trauriger Produzentenhandel, erschwert durch die Bureaukratien beider Partner und gesegnet von den nationalen Fahnen – es ist eine Freude, in Europa zu leben.) Aber wegen dieser Dinge ist niemand nervös.

Die Stadt Paris ist unruhig. Nach der großen Fremdeninvasion der letzten Jahre hat sie sich wieder auf ihr französisches Teil besonnen – die Amerikanisierung schreitet nicht mehr so rasch fort wie früher. Es wäre ein Jammer, wenn dieses schöne und wertvolle Land unter den schadenfrohen Beteuerungen des Auslandes von Fiebern geschüttelt werden sollte, die mehr aus einem überheizten Ofen als aus dem Innern eines gesunden Körpers kommen.

Inzwischen ist der Höhepunkt der hier geschilderten Krise überschritten. Gegen die »Liberté« ist Herriot eingeschritten, ebenso gegen den »Eclair«, den sabotierende Beamte aus Nollets Ministerium mit militärischem Material versorgt haben. Die Amnestierungsvorlage ist, vom Senat ziemlich böse zugerichtet, von der Kammer verabschiedet worden. Über die »Revolution« haben sich die Gemüter etwas beruhigt. Das Symptom ist fortgefallen – die Innern Ursachen der Nervosität sind geblieben.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 06.01.1925, Nr. 1, S. 6.