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Berliner Nachtkultur

Nacht! Nacht! – nicht Nackt … (Mit der Nacktkultur ist das so eine Sache, sie ist im Aussterben, ihre Jünger waschen sich nicht mehr so häufig … ) Mit der berliner Nachtkultur aber ist es so bestellt:

In einem Raum mittlerer Größe sitzen an den Tischen die Lehrlinge und jüngeren Angestellten der bedeutenderen berliner Firmen, untermischt mit Studenten, die durch Einklemmen eines runden Glases in eins ihrer Augen und durch eine saloppe Haltung eine vornehme Abkunft vorzuspiegeln sich bemühen – und andererseits sitzen an den Tischen jene Art Frauen, die der kundige Beobachter, dem mittleren Bürgerstande und der Provinz entsprossen, nicht zu Unrecht als leichtfertig und zweifelhaft zu bezeichnen liebt. Die Vertreter beider Geschlechter stehen in regem Ge … Gedankenaustausch: es kann sogar im Laufe des Abends vorkommen, dass ein munteres Scherzwort, wie: »Na, Kleener!« – einen Heiterkeitssturm bei den Umsitzenden auslöst. Auffallend für den nicht Einheimischen ist das Bestreben, mehr zu scheinen, als man ist: der Kommis gibt vor, ein Graf zu sein – was ihm oftmals nicht allzu schwer fällt – junge Leute, die tagsüber Seidenrollen in die richtigen Fächer zu transportieren haben, legen hier das sorglose Benehmen eines »Lebemannes« an den Tag, und die Damen … ! Es ist ganz erschrecklich, wie diese armen Wesen sich anstrengen müssen, um den anwesenden Herren eine Eleganz, einen Duft von – großer Welt vorzutäuschen, einen Stil, den diese einst ehrsamen Töchter fleißiger Handwerker nicht von entfernt gerochen haben. –

In der Mitte ist Tanz. Man beliebt, offen das Letzte der Liebe hierbei anzudeuten … Musik gibt es, helles Licht, Leute, die hinausgehen, und solche, die prüfenden Auges hereinkommen …

Und ich kann nicht umhin, zu betonen, wie sehr traurig das alles ist. Es hat nicht den Ton unbefangener Fröhlichkeit, aber auch nicht die Kultur einer durchtriebenen pariser Kokotte – Ladenschwengel, Frauenzimmer, Pack, das sich mit Gewalt höher schrauben will und sich vornehm dünkt …

Es ist zu blöde, um unmoralisch zu sein. Wofern aber einer hier mit dem mittelalterlichen Geschütz der »Moral!« aufrücken wollte, so fällt mir der Hund auf der Straße ein, der sich flöht; sein Herr verbietet es ihm. Er sollte ihn baden!

tu.
Vorwärts, 28.08.1912.