Zum Hauptinhalt springen

Berliner Konzertsaison

Die Blätter färben sich, es wird trübe, und man nennt das schlechte Wetter nun Herbst. Und noch um ein weniges … »Dulde, gedulde dich fein! Über ein Stündlein« – ist deine Kammer voll Sonne, – heißt es im Gedicht weiter. Aber wir sind nicht im Gedicht: noch um ein weniges, ach: ist Berlin voll Musik. Was geht vor?

Die Konzertagenturen arbeiten fieberhaft, die Künstler sind außer Rand und Ordensband, sie lassen sich fotografieren … rastlos. Es gilt, wohlan! Denn es steigen in Berlin im Winter ungefähr 1800 Konzerte, und davon sind nur 150 gewinnbringend. Alle anderen kosten Geld. Aber warum werden sie dann veranstaltet?

Zunächst aus wirtschaftlichen Gründen. Mit den paar armseligen Zeilen berliner Kritik laufen die Sänger usw. in die Provinz, um dort zu unterrichten, um dort wiederum zu konzertieren. Und da man in der Provinz – speziell im Osten, der arm an Großstädten ist – abenteuerliche Vorstellungen von Berlin hat, so bildet man sich wirklich ein, diese große Stadt habe sich tatsächlich auch nur mit einem kleinsten, wichtigen Teile um diesen Rummel gekümmert. Wer einmal gesehen hat, wie geängstigte Klavierlehrerinnen sich das »Schwarzseidene« angezogen haben, um halb im Taumel ein Lied von Schubert zu grölen, während die Freundinnen den Berichterstatter des Täglichen Donnerwetter an den Rockschößen in den Saal zogen – der weiß genug.

Der Grund der Musikseuche sitzt tiefer. Das Künstlerproletariat verdankt seine Existenz der maßlosen Überschätzung der Musik. Der Bürger redet sich und anderen ein, es sei bereits etwas, wenn jemand ein Klavierstück schön daherspiele, ein Lied zu singen verstände – mit Seele vulgo Schmalz. Es ist aber nichts.

Einer der wenigen, die einmal gut und treffend nachwiesen, dass man sehr wohl ein Philister sein und gleichzeitig Bach und Beethoven schätzen könne, war A. H. Schmitz. Er wurde nicht gehört. Nach wie vor läuft der deutsche Bürgerstand jedem langhaarigen Klavierhauer nach, pflegen die alternden Töchter zum Entsetzen der Nachbarn den Gesang, heulend wie eine Lokomotive im Tunnel … aber dieselben Leute, die mit ergriffenen Gesichtern im Konzert sitzen, sind stumpf und dumpf allen anderen Fragen gegenüber, bei denen es gilt nachzudenken.

Nichts gegen die Musik. Aber es liegt in ihrem Wesen, dass sie zu nichts verpflichtet. Man kann versinken in das Meer der Töne – und wenn man herauskommt, ist man wieder Exzellenz, Schulmeister, alte Jungfer … je nachdem.

Der Politiker, der Literat, der Philosoph, – sie alle müssen Farbe bekennen. Der Musiker wird gefeiert und denkt sich nichts dabei. Der Musiker denkt nicht, sondern macht Musik.

Und diese maßlose Überschätzung einer Kunst, die soviel Dilettanten verträgt, hat ein Haufen Leute emporgewirbelt, die, zu allem andern unfähig, nur von ihrer Eitelkeit und den falschen Vorstellungen ihrer Mitmenschen leben.

Die bürgerliche Presse hält sich für verpflichtet, die liebe Eitelkeit zu unterstützen … und um ein weniges wird Berlin wieder voll Musik sein.

Aber nicht voll Kultur. Denn das ist zweierlei.

anonym
Vorwärts, 19.08.1913.