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Dollar = 2000 Mark

Wir heulten, schrien und fackelten
vom armen Proletarierpack;
inzwischen aber wackelten
die letzten Taler aus dem Sack.

Gottfried Keller (1847)

Dollar zweitausend – bald ist es soweit. Und das Katastrophale ist nur, dass die Entwertung des Geldes nicht gleichmäßig mit dem Dollar Schritt hält – sondern dass alles bunt durcheinander geht: der eine steigert um hundert Prozent und der andere um zweihundert, und der um die Hälfte und der wenig, und der gar nicht, weil er die Macht nicht hat.

Der erste ist der Mann mit den Lebensmitteln. Und er kann das, weil die andern müssen. Die sofortige Steigerung der Butter, der Milch, des Fleischs ist in keiner Weise gerechtfertigt – hier ist der Dollarkurs nur Anlaß, nicht Ursache. Eine bessere Ausrede können die Leute gar nicht finden. Nun bekenne ich ja beschämt, dass ich gar nichts mehr von der Volkswirtschaft verstehe, seit mir neulich ein großer Getreidehändler auseinandergesetzt hat: Wucher gibt es gar nicht. »Wucher« – das ist nur ein Schlagwort für Versammlungsredner. Schade – wenn er nicht in die Theaterloge hätte gehen müssen, so wäre er mir vielleicht gefolgt, und ich hätte ihm die Arbeiterquartiere gezeigt, in denen es keinen neuen Stuhl gibt, keine neuen Kleider, keine Schuhe, kein ganzes Stück Wäsche – – Wucher … nein, den gibt es nicht. Den haben wir uns ausgedacht.

Was nun?

Die Gefahr liegt klipp und klar vor uns: Geht das so weiter, so setzt es Unruhen. Gibt es die, weil weite Schichten sehen, dass nichts – aber auch nicht das Leiseste geschieht, um einen geradezu schamlosen Wucher abzudrosseln, so ist gleich ein ganzes Rudel »Ordnungsmänner« auf dem Plan. Kinder sterben, weil sie keine Milch haben – alte Leute müssen noch einmal das Tragbündel auf die Schulter nehmen und arbeiten, bis sie zusammenbrechen – stillende Mütter sind in Verzweiflung – den Schreibern guckt der Ärmel durch die blanke Jacke – jeder sieht an sich herunter und sagt: »Nun geht der Stiefel aber wirklich nicht mehr!« – und er muß doch noch gehen – – sie aber rufen: »Ruhe und Ordnung!« Ruhe und Ordnung … ? Jeder Mann sein eigener Wucherer. Das ist freilich auch eine Ordnung.

Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass jede eingehauene Fensterscheibe dazu dienen muß, der Reichswehr und ähnlichen Ordnungsorganen aufs neue die Existenzberechtigung nachzuweisen. Wenn bei uns die Menschen vor Hunger schreien, weil sie nicht mehr gerade stehen können, dann nennt man das »Kommunistenaufstand« – und so viel Aufstände und so viel Kommunisten gibt es gar nicht, wie sich eine gewisse Klasse bei uns herbeiwünscht. Und weil der Arbeiter nicht den gesegneten Stumpfsinn des Mittelstandes aufweist, jener bürgerlichen Schicht, die heute zwischen oben und unten zerrieben wird und wehklagt und jammert – aber sich zu keinem Handeln aufraffen kann, es sei denn zu dem, auf die Arbeiter zu schimpfen –: deshalb wird der Arbeiter diese Teuerung letzten Endes auszubaden haben.

Die Gefahr ist unendlich groß. Man braucht nicht einmal an Verzweiflungstaten unbesonnener Elemente zu denken, die mit ihrem entwerteten Geld nicht mehr ein noch aus wissen – es genügen schon die unausbleiblichen kräftigen Lohnbewegungen, um die Hüter der Ordnungszellen auf den Plan zu rufen. Sie warten nur auf das Chaos, das ihre Wirtschaftspolitik selbst heraufbeschworen hat. Und deshalb rufen wir den Arbeitern zu:

Seid auf der Hut! – Laßt euch nicht provozieren! Wer sich jetzt an euch herandrängt, um euch Irrsinnstaten anzuraten, ist entweder bezahlt oder ein Wahnsinniger. Hände weg –!

Womit keineswegs gesagt ist, dass wir in Temperamentlosigkeit verharren sollen, bis es den hohen Herren in der Burgstraße gefällt, den Dollar noch höher hinaufzutreiben. (Viel höher, als ihn zum Beispiel Amerika im Vergleich zur Mark bewertet.) Die Rechtspresse, der die Abonnenten (Beamte) die Ohren vollwimmern, weil es mit dem Gehalt nicht mehr gehen will, sagt bereits: Es muß etwas geschehen. Aber – – es darf nicht sozialisiert werden! – das heißt: es soll alles beim alten bleiben.

Und hier liegt der Kern alles Übels. Die Finanzpolitik dieses Landes ist verfahren, seit Erzbergers Wirken [fehlt eine Zeile] Geschmack – aber er hat wenigstens etwas gewollt: eine einigermaßen gerechte Steuerverteilung. Und nichts macht in der gesamten Welt so viel Eindruck, nichts ist jetzt bei der französischen Propaganda in Amerika zugkräftiger gewesen, über nichts sind die Engländer mehr erbost als über eine Tatsache –:

In Deutschland zahlen die Besitzenden zu wenig Steuern.

So, wie in den überorganisierten Krankenkassen der gesunde Arme für den kranken Armen sorgt und der Bemittelte aus dem ganzen Kram heraus ist – so wälzt dieser bankrotte Staat Reform auf Reform, die nur dem einen ängstlich aus dem Wege geht: durch eine vernünftige Steuergesetzgebung, die sich im Gegensatz zur geltenden wirklich durchführen läßt, den Besitzenden zu erfassen. Die Finanzämter sind unnachsichtig mit deinem kleinen Gehalt – die Steuerspezialisten für den Dollarschlecker sitzen auf der anderen Seite: an der Seite des Privatmannes, der hinterziehen will. Und der hinterzieht. Du zahlst. Der Landmann, der Großunternehmer – sie gehen frei aus.

Sämtliche »Aufklärungsverlage« der Schellingstraße in Berlin, alle diese »Ligen« und »Kulturverbände « und »Arbeitsgemeinschaften« beweisen in dicken Broschüren, die deine Millionen kosten, wie unfähig die Bolschewisten ihre Wirtschaftspolitik machen. Der Kapitalismus soll sich an seine Nase fassen. Zwei ungeheure Blamagen seines Wirkens liegen vor: Wien und Berlin. Die Krone und die Mark zeigen seine Pleite an, sein Unvermögen und seinen bösen Willen.

Die Banker schwellen an. Der Dollar steigt. Im Hintergrund liegen die Kappleute und warten.

anonym
Freiheit, 20.08.1922, Nr. 307, S. 3.